Michel Barnier

Drohende Staatskrise in Frankreich Für Premier Barnier wird es richtig eng

Stand: 02.12.2024 20:11 Uhr

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Frankreich ab Mittwoch ohne Regierung dasteht. Linke und Rechte könnten sie im Streit um den Haushalt zu Fall bringen. Völlig unklar ist, wie es danach weitergeht.

Von Holger Beckmann, ARD Brüssel, zzt. Paris

Alle reden von einem politischen Chaos in Frankreich: die Regierung von Michel Barnier, die ein Ende der Stabilität des Landes befürchtet, die Opposition von links, die der Regierung vorwirft, nichts für die Interessen der meisten Menschen in Frankreich getan zu haben, und die Opposition von rechts.

Die Rechtsaußen-Partei Rassemblement National von Marine Le Pen bescheinigt Barnier und Präsident Emmanuel Macron, dieses Chaos selbst angerichtet zu haben. Richtig ist: Es gibt eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass Frankreich - die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union - übermorgen erst einmal ohne Regierung dasteht. Grund ist der seit Monaten andauernde Streit um den Staatshaushalt für das kommende Jahr.

Barnier setzte sich über das Parlament hinweg

Barnier wollte dem Land einen ungewohnten Sparkurs verordnen. Die Opposition von links und rechts wollte das nicht - nicht so jedenfalls. Deshalb hat Barnier jetzt mit dem Sozialetat einen entscheidenden Teil seiner Pläne ohne Abstimmung durchs Parlament gebracht. Einen solchen Schritt erlaubt ihm die Verfassung laut Artikel 49.3.

Die derzeitige Situation und Frankreichs wachsende Staatsverschuldung ließen ihm keine Wahl, sagte Barnier im französischen Parlament, der Assemblée Nationale, begleitet von Zwischenrufen aus der Opposition: "In diesem Moment geht es darum, die Interessen unseres Landes zu verteidigen und seinen Einfluss in Europa und weltweit. Deshalb greife ich zum Artikel 49."

Allerdings hat Barniers Schritt einen Preis: ein Misstrauensvotum. Das möchte die Opposition nun schnell auf den Weg bringen. Am Mittwoch schon soll es in der Assemblée zur Abstimmung stehen. Die im Linksbündnis als sogenannte neue Volksfront zusammengeschlossenen Parteien wollen den Sturz von Barniers Regierung genauso wie der rechtsextreme Rassemblement National (RN).

Barnier machte dem RN ein Angebot

Für dessen Frontfrau Marine Le Pen, Fraktionschefin des RN im Parlament, ist die Sache ganz klar: Barnier habe nicht auf das eingehen wollen, was elf Millionen Wähler des Rassemblement National in Frankreich verlangt hätten, meint Le Pen. Stattdessen habe der Regierungschef jede und jeden einzelnen aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen. Und genau das werde man jetzt tun.

Barnier hatte noch versucht, Le Pen mit seinen Plänen entgegenzukommen: Die Stromsteuer für Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in Frankreich sollte nun doch nicht steigen, ebenso wenig wie die Zuzahlungen für Medikamente. Denn das hatte Le Pen als rote Linie bezeichnet. Es gab aber offenbar noch mehr. Auch bei der Streichung eines quasi entsprechend der Inflation automatisierten Rentenanstiegs wollte der Rassemblement Zugeständnisse, die es nicht gegeben hat.

Linke sieht Wählerwillen missachtet

Die Links-Opposition war mit den Haushaltsplänen insgesamt nicht einverstanden und hatte vor einigen Wochen bereits einmal ein Misstrauensvotum gegen Barniers Regierung auf den Weg gebracht. Das scheiterte allerdings. Mathilde Panot, für die Linkspartei "Unbeugsames Frankreich" im Parlament, sieht ebenfalls den Wählerwillen missachtet: Deshalb werde die neue Volksfront dieses Misstrauensvotum unterstützen.

Es ist also wahrscheinlich, dass die extreme Rechte mit der Linken zusammen stimmt, um Barnier und seine Regierung zu Fall zu bringen. Auch das ist in dieser Form etwas Neues in Frankreich. Wenn die Regierung am Mittwoch tatsächlich stürzen sollte, ist völlig unklar, wie es politisch weitergeht im Land.

Geht Macron einen völlig neuen Weg?

Frankreichs Präsident müsste einen neuen Regierungschef oder eine Regierungschefin ernennen. An den Mehrheitsverhältnissen im Parlament würde das allerdings nichts ändern. Der Pariser Politologe Yves Sintomer hält es für denkbar, dass Macron als Präsident deshalb auch einen bisher völlig ungekannten Weg gehen könnte.

"Macron könnte so etwas wie einen Neuanfang machen mit großen Konventen unter der Bevölkerung", sagt der Wissenschaftler. Auf diesem Wege könne der Staatschef ein Meinungsbild zu den großen Fragen wie Klima oder Haushaltsbudget einholen. "Macron kann dann eine technische Regierung einsetzen, solange es nötig ist."

Auch Le Pen steht unter Druck

Aber auch danach sieht es nicht aus. Le Pen dürfte auf jeden Fall darauf spekulieren, dass Macron aufgrund der derzeit völlig verfahrenen Lage seinerseits frühzeitig sein Amt niederlegt. Denn Macron trage für alles die eigentliche Verantwortung: Der Präsident müsse jetzt die notwendigen Entscheidungen treffen. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen jedenfalls gäben Le Pen die vielleicht letzte Chance, selbst ins höchste Staatsamt Frankreichs zu kommen.

Daran arbeitet sie seit Jahren, und jetzt sitzt ihr die Zeit im Nacken. Schließlich läuft im Moment ein Prozess wegen der Veruntreuung von EU-Geldern gegen sie, an dessen Ende sie ihr passives Wahlrecht verlieren könnte und bei Wahlen nicht mehr antreten dürfte - es sei denn, die Wahlen wären vor der Urteilsverkündung.

Allerdings gilt ein Rückzug Macrons als unwahrscheinlich. Er selbst hat einen Rücktritt vor Ende seiner Amtszeit 2027 auch ausgeschlossen. Aber sicher ist politisch im Moment wenig Frankreich. Außer, dass die Lage jetzt tatsächlich chaotisch ist.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 02. Dezember 2024 um 17:21 Uhr.