Rücktritte vieler Minister Auflösungserscheinungen in London
Gut 50 britische Regierungsmitglieder sind zurückgetreten - darunter wichtige Weggefährten von Premier Johnson. Quasi stündlich kommen neue hinzu. Selbst der neue Finanzminister fordert seinen Rücktritt.
Die Liste der britischen Regierungsmitglieder, die aus Protest gegen ihren eigenen Chef zurücktreten, wird stündlich länger. Allein an diesem Morgen erklärten unter anderem Nordirland-Minister Brandon Lewis, Sicherheitsminister Damian Hinds, Justizminister James Cartlidge und die erst am Dienstag berufene Bildungsministerin Michelle Donelan ihre Rücktritte.
Hinzu kommen mehrere Regierungsmitglieder in nachgeordneten Positionen. Insgesamt haben seit Dienstag etwa 50 hohe Regierungsmitglieder ihr Amt niedergelegt.
Kabinettsmitglieder fordern Johnsons Rücktritt
Hinzu kommen Entlassungen: So feuerte Johnson am Mittwochabend den Wohnungsbauminister Michael Gove. Dieser gilt als enger Weggefährte Johnsons und war eine treibende Kraft hinter dem Brexit.
Gove hatte zuvor, zusammen mit zahlreichen anderen Spitzenpolitikern der konservativen Tory-Partei, Johnson zum Rücktritt aufgefordert, um Schaden vom Land und der Partei abzuwenden. Darunter waren Innenministerin Priti Patel, Verkehrsminister Grant Shapps und Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng, die allerdings in ihren Ämtern bleiben dürfen.
Auch der neue Finanzminister, Nadhim Zahawi, forderte am Morgen erneut eindrücklich Johnson sofortigen Rücktritt.
Konkurrenten bringen sich in Stellung
Am Morgen schloss sich auch Generalstaatsanwältin Suella Braverman den Forderungen an und erklärte, Johnson müsse zurücktreten. Sie will zwar nicht ihr eigenes Amt aufgeben - bot sich aber bereits für Johnsons Nachfolge an. "Wenn es eine Wahl zum Parteichef gibt, werde ich mich bewerben", sagte Braverman.
Oppositionsführer Keir Starmer warf dem Premierminister im Parlament vor, er liefere ein "erbärmliches Schauspiel" ab. Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei, Ian Blackford, forderte eine Neuwahl.
Johnson hat noch "so viel zu tun für das Land"
Dennoch will Johnson sein Amt nicht abgeben. "Der Premierminister ist in einer optimistischen Stimmung und wird weiterkämpfen", sagte Johnsons parlamentarischer Assistent James Duddridge dem Sender Sky News am Mittwochabend. Johnson habe bei der vergangenen Parlamentswahl das Mandat von 14 Millionen Wählern bekommen und "so viel zu tun für das Land".
Berichten zufolge hatte er parteiintern vor Chaos und einer Niederlage für die konservativen Tories bei der nächsten Parlamentswahl gewarnt.
Entscheidung am kommenden Dienstag
Am kommenden Dienstag will ein einflussreiches Komitee, das die Regeln für eine Abwahl des Tory-Parteichefs festlegt, den Weg für ein zweites Misstrauensvotum freimachen. Johnson hatte erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden.
Den bisherigen Regeln der Tory-Partei zufolge darf für die Dauer von zwölf Monaten nach der Abstimmung kein neuer Versuch unternommen werden, den Vorsitzenden zu stürzen. Durch eine Regeländerung wäre aber bereits in der kommenden Woche ein neues Misstrauensvotum möglich. Es gilt als wahrscheinlich, dass Johnson dieses Mal verliert.
Johnson beim Lügen ertappt
Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Reihe von Affären und Skandalen. Es ging um illegale Partys im Corona-Lockdown und Spendenaffären.
Zuletzt stand Johnsons Parteikollege Chris Pincher im Fokus, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, der aber dennoch von Johnson befördert wurde. Dabei wurde bekannt, dass Johnson bereits 2019 über Vorwürfe gegen Pincher informiert worden war. Der Premier hatte dies zunächst dementieren lassen, es dann aber doch einräumen müssen und versichert, er habe diese Tatsache "vergessen".