Jean-Luc Melenchon spricht bei einer Veranstaltung.
analyse

Nach der Wahl in Frankreich Zu Kompromissen nicht bereit

Stand: 08.07.2024 16:26 Uhr

Es ist weiter völlig unklar, wer in Frankreich als Premier in Frage kommt. Und es scheint, als sei keine der Parteien bereit, inhaltlich Kompromisse einzugehen. Ist eine Koalition so überhaupt denkbar?

Die große Frage am Tag nach der Wahl lautet: Ist dies der historische Moment, in dem Frankreichs Politiker und Politikerinnen lernen, Koalitionen zu schmieden? Das Wahlergebnis schreit danach, allein die politische Kultur scheint weiterhin zu fehlen.

Nun obliegt es dem linken Nouveau Front Populaire (NFP) als bestplatziertem Bündnis - aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und linksradikaler La France Insoumise (LFI) -, eine Regierung zu bilden.

Bloß keine Kompromisse

Doch es klingt nicht danach, als stünde ihnen der Sinn nach Kompromiss, als würden sich die Linken dauerhafte Partner suchen wollen. Vielmehr überwiegen an diesem Morgen die Stimmen, die wie Clémentine Autin von LFI fordern, das NFP-Wahlprogramm eins zu eins umzusetzen.

Zwar fügt Autin hinzu, dass ein linker Premier das Land befrieden müsse, nicht mehr brutal regieren dürfe, wie das Ex-Premierministerin Elisabeth Borne mit dem berühmten Sonderparagraphen 49.3 ein ums andere Mal getan und somit eine Abstimmung beispielsweise über die Rentenreform im Parlament umgangen habe.

Doch auf Nachfrage, wie der NFP stattdessen seine Ideen durchsetzen wolle, verweist Autin nur darauf, dass man zur Not Referenden ansetzen könne.

Auch die gemäßigte Grünen-Generalsekretärin Marine Tondelier pocht darauf, dass das linke Programm ohne Abstriche durchgesetzt werden müsse. Mit dieser Haltung sind jedoch Koalitionsverhandlungen quasi unmöglich; die Linke würde Gefahr laufen, schnell an einem Misstrauensvotum zu scheitern.

Wer wird Premier?

Hinzu kommt, dass innerhalb des Linksbündnisses noch nicht klar ist, wer als Premierminister in Frage kommt. Wird sich ein Repräsentant der stärksten Kraft unter den Linken, der linksradikalen LFI, durchsetzen? Etwa der umstrittene Wortführer Jean-Luc Mélenchon?

Oder wird sich der Nouveau Front Populaire auf einen gemäßigten Vertreter oder eine gemäßigte Vertreterin einigen, in der Hoffnung, so mehr Wohlwollen in der Mitte der Nationalversammlung zu ernten?

Keine Zusammenarbeit mit den Linken

Im Wahlkampf aber hat Präsident Emmanuel Macron das Linksbündnis immer wieder für genauso gefährlich erklärt wie den rechtsnationalen Rassemblement National (RN). Zwar hat er sich danach in der Stichwahl helfen lassen; hat den Rückzug der 130 NFP-Kandidaten und -Kandidatinnen zugunsten eines Macronisten gerne angenommen, um den RN zu verhindern.

Aber politische Verbindlichkeiten will sich Macrons Mitte-Bündnis damit nicht aufgeladen haben. Im Gegenteil. Vertreter des rechten Flügels in Macrons Lager schießen weiter gegen die Linken, etwa Innenminister Gerald Darmanin oder der Chef der rechtsliberalen Partei Horizon, Edouard Philippe. Sie wären eher bereit, sich mit den konservativen Republikanern zusammenzutun, um in eine bessere Position zu kommen.

Obwohl also Macrons Strategie, Neuwahlen auszurufen, auf der ganzen Linie gescheitert ist und er seine eigene ohnehin nur relative Mehrheit massiv geschwächt hat (von 245 Sitzen auf rund 160), scheinen auch hier die Zeichen nicht auf Koalition zu stehen.

Der Rassemblement National außen vor

Der Rassemblement National muss derweil hinnehmen, dass er nur als Drittplatzierter aus der Wahl hervorgeht, obwohl er in absoluten Zahlen die meisten Stimmen gewonnen hat. Gestern sagte Parteichef Jordan Bardella bereits, das französische Volk sei seiner Stimmen beraubt worden.

Fakt ist: Das Mehrheitswahlrecht hat dafür gesorgt, dass der RN - obgleich er gemeinsam mit seinen Verbündeten rund drei Millionen Stimmen mehr gewonnen hat als der linke NFP - nicht in Regierungsverantwortung kommt.

Doch mit der Steigerung die Abgeordnetenzahl von 89 auf circa 140 wird der RN mehr Gewicht bekommen. Seine Vertreter haben bereits angekündigt, bei der bisherigen erfolgreichen Linie des RN bleiben zu wollen: Man werde konstruktiv alle Gesetze mittragen, die "zum Wohle des Volkes seien", heißt es.

Und zwar auch, wenn diese Gesetze von der Linken vorgeschlagen würden. Das käme beispielsweise bei der Abschaffung der Rentenreform in Frage. Mit dieser Haltung hofft der RN, sich auf Dauer als die Partei mit dem "kohärentesten Programm" und der diszipliniertesten Parlamentsarbeit profilieren zu können.

Keine Koalitionen in Sicht

Doch bis das Parlament überhaupt arbeitsfähig und eine Regierung startklar sein wird, kann noch viel Zeit vergehen. Präsident Macron hat qua Verfassung keinen Zeitdruck und trotz der Rücktrittserklärung seines Premierministers Gabriel Attal entschieden, ihn und seine Regierung vorerst geschäftsführend im Amt zu lassen.

In den kommen Tagen werden die Linken einen Premier vorschlagen; außerdem werden die Fraktionen offiziell angemeldet. Am 18. Juli tritt die neue Nationalversammlung erstmals zusammen. Dann wird definitiv feststehen, wer mit wem zusammengeht. Das Linksbündnis verspricht seinen Wählerinnen und Wählern, trotz der internen Divergenzen geschlossen zu bleiben. Aber ob sich nicht am Ende doch die Gemäßigten unter ihnen aus dem NFP herauslösen und auf Absprachen mit der politischen Mitte einlassen werden, ist längst nicht ausgemacht.

Nur eines scheint derzeit festzustehen: Eine "Koalition der Gegensätze", wie es abfällig heißt, will augenscheinlich niemand. Dass man diese auch einfach "demokratisches Zweckbündnis auf Basis eines echten Koalitionsvertrags" nennen könnte, kommt den meisten nur dann in den Sinn, wenn sie vergleichend auf Deutschland verweisen. Dort wage man Koalitionen.

Ernsthaft in Erwägung gezogen werden sie so kurz nach der Wahl in keinem politischen Lager. Der historische Moment scheint dafür, Stand jetzt, immer noch nicht gekommen zu sein.

Sondierungsgespräche nach überraschendem Sieg des Linksgrünen-Bündnisses bei Parlamentswahlen

Sabine Rau, ARD Paris, tagesschau, 08.07.2024 17:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 08. Juli 2024 um 10:00 Uhr.