Polen Üben im Schießstand - auf einmal populär
Der Angriff auf die Ukraine hat auch im Nachbarland Polen scheinbare Gewissheiten erschüttert: "Die Zahl der Pazifisten ist zurückgegangen", unkt ein Schießstand-Ausbilder - und auch Behörden reagieren.
"Eine Scheibe mit Putin drauf haben wir leider nicht", sagt Mariusz Kaczmarczyk, als er den Raum betritt: "Die sind alle schon zerschossen." Er hängt eine Zielscheibe mit der Silhouette eines Angreifers auf, die nicht mit einer realen Person oder gar dem russischen Präsidenten zu verwechseln ist.
Der Schießstand, den der 49-Jährige am Rande des Warschauer Szenebezirks Praga betreibt, hat gerade Konjunktur. Einen Tag nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sei kaum noch ein freier Platz auf den Bahnen zu bekommen gewesen, die Buchungen hätten sich verdreifacht. "Die Zahl der Hippies und Pazifisten hier ist schlagartig um 70 Prozent zurückgegangen", sagt Kaczmarczyk - nur halb im Scherz.
Sein Schiessstand ist neuerdings häufig ausgebucht: Mariusz Kaczmarczyk
Üben mit der Kalaschnikow
Michal war schon häufiger hier, auch vor dem 24. Februar. Heute hat er drei Freunde, alle um die 20 Jahre alt, mitgebracht. Sie probieren sich an einer Kalaschnikow, dem vielleicht bekanntesten Sturmgewehr der Welt. Die Treffergenauigkeit entspricht dabei erwartungsgemäß eher der von Anfängern.
Über das Üben an der Waffe reden mögen sie nicht, zu unangenehm scheint das Thema in einem Land, das vergleichsweise strikte Waffengesetze und eine im internationalen Vergleich sehr niedrige Anzahl an Schusswaffen im privaten Besitz hat. "Das ist ein Problem im Krisenfall: Es gibt bei uns nur etwa eine Pistole pro hundert Einwohner“, sagt Krzysztof Przepiorka.
Der ehemalige Oberstleutnant der polnischen Spezialeinheit GROM ist Ausbilder auf dem Schießstand. Früher seien fast nur Männer gekommen, seit dem Krieg kämen vor allem ganze Familien, auch Kinder. Ausgebildet werde aber nicht nur an der Waffe, erzählt Przepiorka, der zwei Tage später eine Schule besuchen und 150 Lehrer etwa für den Fall eines Luftangriffs und in Erster Hilfe schulen wird.
Selbstverteidigung heißt für Krzysztof Przepiorka: mehr Waffen in privatem Besitz
Militarisierung - der falsche Weg?
Seine Forderung nach mehr Waffen in der Zivilgesellschaft findet aber nicht nur Zustimmung: "Militarisierung hat noch nie zu Frieden geführt. Wir brauchen nicht mehr Waffen, sondern freie und gebildete Gesellschaften, die ohne Gewalt Nein zu den Fehlern der eigenen Regierung sagen können und vor allem nicht gleichgültig gegenüber dem Bösen sind", sagt Katarzyna Przybyla, die Leiterin des Instituts für Frieden- und Konfliktforschung des Collegium Civitas, einer privaten Warschauer Universität.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch in Polen alte Gewissheiten erschüttert - und neue Rollen notwendig gemacht. Das dem Premierminister unterstellte Regierungszentrum für Sicherheit (RCB) kennt zwar fast jeder hier, vor allem aber durch die automatisch verschickten SMS, die vor Unwetter warnen.
Vor wenigen Tagen stellte das Krisenzentrum ein Dokument ins Netz, das einer ganz anderen Katastrophe gilt: "Sei bereit! Ein Ratgeber für die Zeiten der Krise und des Kriegs" heißt das 36-seitige Werk, in dem in einfacher Sprache erklärt wird, was in einen Evakuierungsrucksack gehört, wie Desinformation erkannt oder was im Falle einer Geiselnahme ("Iss, was sie Dir geben - auch wenn Dir nicht danach ist.") empfohlen wird.
Ein anderes Wissen ist gefragt
"Hätten wir das vor einem Jahr veröffentlicht, hätte es wahrscheinlich ein ungesundes Gefühl und Panik ausgelöst", sagt Damian Duda, Chef des Informationsbüros des RCB bei Radio Warszawa. "Aber jetzt ist wohl jedem klar, dass wir solches Wissen brauchen. Die Grundlage für den Ratgeber kam von Soldaten der Spezialeinheiten und Menschen, die in der Ukraine waren."
Das Urteil polnischer Sicherheitsexperten fällt durchaus positiv aus, die Rezeption aber ist noch überschaubar. Knapp 300.000 Mal wurde der Ratgeber heruntergeladen. Zu wenig in den Augen des RCB, das gerade eine Druckversion erarbeitet, die an Schulen in ganz Polen verteilt werden soll.
Diese Männer üben mit Pistolen auf einem Warschauer Schiessstand - in der polnischen Gesellschaft ist die Angst vor einem Krieg Teil des Alltags geworden.
Bunker zu Tiefgaragen
Ein Thema, das im Ratgeber nahezu ausgespart wird, ist der Zugang zu Bunkern. Nicht ohne Grund: "Es gibt so wenige Schutzräume, dass sie höchstens ein paar Prozent der Bevölkerung versorgen können. Wenn wir wie Charkiw oder Mariupol beschossen würden, könnten wir uns vor Luft- und Raketenangriffen nirgendwo verstecken", sagt General Leon Komornicki, der ehemalige stellvertretende Chef des Generalstabs, dem Nachrichtenportal naTemat.pl.
Aus seiner Sicht sei nach dem Beitritt zur NATO 1999 die Sicherheits-Infrastruktur vernachlässigt worden: "Die bestehenden Bunker wurden zugemauert, in Tiefgaragen umgewandelt, verwahrlost. Die meisten von ihnen erfüllen ihre Rolle nicht."
Errichtet wurden die meisten Bunker im Kommunismus, während des Kalten Krieges. Tatsächlich sind viele der Anlagen in einem technisch schlechten Zustand - falls sie überhaupt noch auffindbar sind. Denn in Polen gibt es seit 2004, dem Jahr des EU-Beitritts, kein Konzept für eine Schutzstruktur mehr. "Niemand ist mehr verpflichtet, Aufzeichnungen über Schutzräume zu führen, sie zu erhalten oder neue zu planen", sagt eine Sprecherin der Warschauer Stadtverwaltung. Und noch ein Problem gibt es in der Praxis: Manchmal fehlt einfach der Schlüssel.