Ein ukrainischer Soldat bedient einen Panzer in der Region Sumy.
reportage

Ukrainer in Grenzregion Sumy Erschöpft - aber mit neuer Zuversicht

Stand: 16.08.2024 10:57 Uhr

Im ukrainischen Grenzgebiet bei Sumy sind viele Menschen auf der Flucht - und die Soldaten an der Belastungsgrenze. Doch die überraschende Offensive in Russland macht ihnen etwas Hoffnung.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Sie rasen in Richtung Front: ukrainische Soldaten in Pick-ups oder Bussen, gepanzerten Fahrzeugen oder auf Motorrädern. Die Männer winken und hupen gut gelaunt, wirken zuversichtlich. Ihr Weg führt sie direkt nach Russland - mehr als 80 Dörfer soll die ukrainische Armee dort schon kontrollieren.

Artem ist ein hochrangiger ukrainischer Offizier und hat die Offensive auf die Region Kursk in Teilen mit geplant. "Das war durch versteckte Bewegungen von Einheiten möglich", erzählt er. Nur eine kleine Zahl von Menschen sei in die Vorbereitung einbezogen worden. Den Informationsraum hätten sie teilweise mit Desinformation gefüllt. "Die Russen konnten nicht glauben, dass wir zu so einer Operation in der Lage sind."

Ukrainische Offensive seit Beginn verlangsamt

Zehn Tage nach ihrem Beginn hat sich die ukrainische Offensive verlangsamt. Nach Angaben der militärischen Führung rücken die Truppen etwa einen Kilometer vor - jeden Tag. Tausende Zivilisten sind auf der Flucht.

Viele Menschen aus den Dörfern im ukrainischen Grenzgebiet fliehen nach Sumy. In einem Koordinierungszentrum erhalten sie humanitäre Hilfe.

Vor dem Eingang im Schatten sitzen Olha, Liudmila und Ihor aus Junakiwka und rauchen. Schon vor Beginn der ukrainischen Offensive sei ihr Dorf immer wieder von Russland mit Artillerie beschossen worden, berichtet Liudmila. Viele seien längst geflohen. "Aber jetzt gehen selbst die Standhaftesten", sagt Liudmila. Olha betont: "Jetzt beschießen uns die Russen sehr stark mit Gleitbomben. Das Dorf wird evakuiert."

"Wer will schon sein Haus verlassen?", fügt Liudmila hinzu. Sie ist wie die anderen in Junakiwka geboren, hat nie woanders gelebt. "Ich habe Hühner, Gänse, Ziegen, Hunde, Katzen", zählt Liudmila auf. Um ihre Tiere zu füttern, fahren die drei regelmäßig zurück ins Dorf - trotz der Bomben, sagt Olha: "Wir haben alles zurückgelassen, was wir uns über die Jahre angeschafft haben." Sie fahren auf eigenes Risiko rein. "Niemand weiß, ob wir zurückkommen."

"Sie sollen ruhig noch weitergehen"

Wenige Meter weiter steht Oleksandra. Die junge Frau hält ihre kleine Tochter Sofiia auf dem Arm. Auch sie haben über zwei Jahre mit dem regelmäßigen Beschuss gelebt: "Meine Tochter hat Angst und weint. Wenn sie uns beschießen, sagt sie: 'Mama, bumm' - und läuft weg. Daran haben wir uns gewöhnt."

Doch jetzt mussten sie einfach raus, sagt Oleksandra. Ob sie je in ihre Heimat zurückkehren kann, weiß sie nicht. Die ukrainische Offensive in Russland aber hält sie für richtig. Zwei Jahre lang hätten sie alles ertragen. "Wie viele Kinder, wie viele Menschen sind ums Leben gekommen? Wie viele Krankenhäuser, Geburtshäuser wurden zerstört?" Mit dem Vorstoß hätten sie alles richtig gemacht, meint Oleksandra. Und: "Sie sollen ruhig noch weitergehen."

Eine Reportage aus dem ukrainischen Sumy zum Vorstoß des ukrainischen Militärs nahe der russischen Grenze

Vassili Golod, ARD Kiew, zzt. Sumy, tagesschau, 16.08.2024 09:55 Uhr

Ukrainische Offensive hat Stimmung verbessert

An vielen Orten in der Grenzregion tummeln sich in diesen Tagen müde, aber zufriedene Soldaten. Sie dürfen eigentlich nicht mit der Presse reden. Ihre Stimmung aber ist gut - ganz im Gegensatz zu der Lage im Osten des Landes, wo die russischen Truppen auf dem Vormarsch sind.

Der Angriff auf Russland aber habe die Moral im gesamten Land verbessert, meint der Offizier Artem: "Es ist schwer, dass wir nicht im Donbass unterstützen können." Doch diese Operation sei wichtiger. Die Verluste, die sie in wenigen Tagen dem Feind zugefügt haben, seien viel höher, als wenn sie in anderen Gebieten wie Donezk oder Saporischschja im Einsatz wären.

Einige Tage könne die Armee bestimmt noch weiter vorstoßen, meint Artem zuversichtlich. Die ukrainische Armee hat die Initiative übernommen und setzt Russland unter Druck. In das Leid, den Krieg und die Bomben mischt sich in Sumy plötzlich ein kleines bisschen Zuversicht.

Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete