Brexit-Machtkampf "Großbritannien ist aktuell unregierbar"
Nach seiner Niederlage im Parlament ist der britische Premier noch nicht geschlagen, sagt Politikexperte von Ondarza im tagesschau.de-Interview. Johnson hoffe ebenso auf Neuwahlen wie die Opposition - auch wenn sie ein hohes Risiko bedeuten.
tagesschau.de: Gestern hat das britische Unterhaus klar dagegen gestimmt, ohne Abkommen die EU zu verlassen. Es soll auch vorerst keine Neuwahl geben, die Premier Johnson favorisiert hätte. Und bei der EU beißt er mit seinem Konfrontationskurs bislang auch auf Granit. Ist er mit seinem harten Kurs voller Maximalforderungen nun gescheitert?
Nicolai von Ondarza: Noch nicht komplett. Gescheitert ist er bisher bei der EU. Von EU-Seite hat man den Eindruck,von der britischen Seite nur für innenpolitische Ziele genutzt zu werden, um sozusagen den Schein von Verhandlungen aufrechtzuerhalten. Innenpolitisch ist es noch die Frage. Ich glaube schon, dass er mit dieser Zwangspause das Parlament bewusst provozieren wollte, um Neuwahlen zu bekommen - und die Provokation ist etwas über das Ziel hinausgeschossen.
Denn die Opposition hat sich stärker geeint, als er das erwartet hatte. Es gab mehr Rebellen aus der konservativen Partei, als man vorher gedacht hat - und das Misstrauen ist jetzt so groß, dass sie ihm diese Neuwahlen noch nicht zugestehen und ihn noch etwas schmoren lassen.
tagesschau.de: Wie geht es jetzt weiter?
Von Ondarza: Das Unterhaus hat gestern eine Anti-No-Deal-Gesetzgebung beschlossen, die den Premierminister zwingt, eine erneute Verlängerung bei der EU zu beantragen. Damit die vollständig Gesetzeskraft erreicht, muss jetzt noch das Oberhaus zustimmen. Da gab es vergangene Nacht auch Fortschritte, man geht mittlerweile davon aus, dass es das bis zum Freitag tut. Und dann müsste am Montag noch die Königin - wie bei uns der Bundespräsident - ihre Unterschrift daruntersetzen.
Bei diesem Schritt befürchtet die Opposition, dass der Premierminister der Königin empfiehlt, das Gesetz nicht zu unterschreiben - mit der Argumentation: Das wäre verfassungsrechtlich problematisch, weil es die Regierung auf eine Art und Weise bindet, wie sie eigentlich bisher nicht dagewesen ist. Daher ist die Opposition erst zu Neuwahlen bereit, wenn die Unterschrift da ist.
tagesschau.de: Wie beurteilen Sie, wie gut Johnson und die Queen bislang zusammenarbeiten?
Von Ondarza: Das kann man von außen natürlich schwer bewerten. Aber klar ist, dass sich traditionell die Königin in Großbritannien aus der Tagespolitik heraushält. Sie hat sich nie direkt zum Brexit geäußert. Johnson zog sie in gewisser Weise erstmals in den Konflikt hinein, indem er die unüblich lange parlamentarische Zwangspause bei ihr beantragte. Letztlich wählte sie dann zwischen zwei Übeln das kleinere und folgte ihrem Premierminister. Die andere Variante wäre gewesen, ein Veto einzulegen - wodurch sie dann voll im Konflikt involviert gewesen wäre. Deswegen gehen Rechtsexperten auch davon aus, dass sie erst einmal Folge leisten würde, wenn der Premierminister der Königin empfiehlt, das Gesetz vorerst nicht zu unterschreiben.
In London wird momentan sogar darüber spekuliert wird, ob die Opposition die Neuwahlen nicht sogar auf den November hinauszögern will, um Johnson diese Schmach zuzufügen, dass er dem Gesetz folgen und in Brüssel um die Verlängerung bitten muss, die er so stark ablehnt.
"Ein Politiker, der eher bereit ist, auf Risiko zu gehen"
tagesschau.de: Was hätten beide Seiten durch Neuwahlen zu gewinnen?
Von Ondarza: Es ist klar, dass Großbritannien aktuell unregierbar ist. Johnson hat selber keine Mehrheit mehr, die hat er ja in den letzten Tagen verspielt - durch einen Fraktionswechsel und den Ausschluss von 21 Abgeordneten aus der konservativen Fraktion. Gleichzeitig hat auch die Opposition keine stabile Mehrheit. Deswegen sind Neuwahlen unausweichlich. Die Frage ist nur, wann sie kommen.
Dann geht es darum, wer das Land regiert und die Brexit-Politik bestimmt. Johnson erhofft sich davon, eine eigene absolute Mehrheit zu gewinnen, die dann entweder den No Deal durchsetzen könnte oder auch einen neuen Deal mit der EU. Das ist ja immer noch nicht ausgeschlossen. Die Opposition hofft natürlich, dass die Stimmung gegen den No Deal ausreicht und sie gemeinsam diese Wahlen gewinnen, um dann möglicherweise sogar ein zweites Referendum auf den Weg zu bringen und den Brexit ganz abzublasen.
tagesschau.de: Hat die Opposition durch das Votum gestern Auftrieb bekommen?
Von Ondarza: Es hat einen spürbaren Wechsel gegeben. Die Regierung hatte bisher eine Stimme Mehrheit und war damit in der Lage, einige Abstimmungen zu gewinnen. Aber zumindest für den Moment hat Johnson eigentlich das Parlament gegen sich vereint. Bisher hat er als Premierminister noch keine einzige Abstimmung im Parlament gewonnen.
tagesschau.de: Neuwahlen sind für Johnson ein sehr hohes Risiko. Warum ist er trotzdem darauf aus?
Von Ondarza: Er ist ein Politiker, der eher bereit ist, auf Risiko zu gehen, und setzt damit alles auf diese Karte. Die Tories haben nach aktuellen Umfragen Chancen, eine Mehrheit zu gewinnen - mit der Strategie, dass die Opposition in Labour und Liberaldemokraten aufgespalten ist und die Stimmen der Brexit-Befürworter sich eher bei den Konservativen vereinen. Aber das ist eben eine Strategie mit sehr hohem Risiko. Johnson könnte am Ende wie in einer Art griechischer Tragödie in die Geschichte eingehen - als derjenige, der den Brexit mit auf den Weg gebracht hat, um Premierminister zu werden, und dann im Amt in kürzester Zeit am Brexit scheitert.
Farages Brexit-Partei könnte Johnson gefährlich werden
tagesschau.de: Wer könnte Johnson bei einer Wahl die meisten Stimmen abjagen?
Von Ondarza: Johnson selbst konzentriert sich vor allen Dingen auf den Anführer der Labour-Partei. Denn Jeremy Corbyn ist eigentlich die größte Schwäche der Opposition, weil er selbst bei den Labour-Befürworten teilweise sehr unbeliebt ist. Er ist in einen Antisemitismusskandal verwickelt und steht wirtschaftspolitisch weiter links als die Labour-Partei unter Tony Blair oder Gordon Brown.
Genauso gefährlich kann Johnson aber Nigel Farage mit seiner Brexit-Partei werden, der sagt: Ich bin bereit, mit den Konservativen zusammenzuarbeiten, wenn sie sich ganz klar zum No Deal bekennen. Das wird Johnson aber nicht machen, weil ihn das im Zentrum Wählerstimmen kosten kann. Deswegen wird die Brexit Party zu den Wahlen antreten und könnte seine Stimmen dezimieren.
In Umfragen liegen die Konservativen gerade knapp über 30 Prozent, Labour bei ungefähr 25 Prozent und die Brexit Party bei etwa 13 Prozent. Das hört sich nicht viel an - aber durch das britische Mehrheitswahlrecht, das der stärksten Partei in jedem Wahlkreis einen Sitz zuspricht, könnte zum Beispiel Labour Wahlkreise gewinnen, obwohl dort zusammen mehr Leute für die Tories und die Brexit Party und damit für einen harten Brexit gestimmt haben. Und in Schottland sieht es nach dem Rücktritt der konservativen Parteivorsitzenden ganz danach aus, als dürften die Tories viele Sitze an die Scottish National Party verlieren.
tagesschau.de: Wie schwer wird es für Johnson, die verbliebenen Tories auf Linie zu bringen?
Von Ondarza: Er versucht schon, die konservative Partei jetzt voll auf seine Politik auszurichten. Ich glaube, deswegen hat er auch so hart durchgegriffen. Man muss aber auch daran denken: Jemand, der zwei Mal ohne Achselzucken gegen die konservative Premierministerin May gestimmt hat, schmeißt jetzt Leute aus seiner Fraktion - für das Gleiche, das er vor wenigen Monaten noch selbst gemacht hat. Das hat schon für Unmut gesorgt. An der Basis bekommt er dafür zwar Unterstützung - die hat ihn ja auch sehr klar zum Parteivorsitzenden gewählt. Aber in der Parlamentsfraktion rumort es, heute ist sein Bruder Joseph Johnson aus Protest aus der Regierung zurück getreten.
Premierminister Johnson hatte zuvor 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, darunter auch prominente Mitglieder wie den ehemaligen Schatzkanzler Ken Clarke und den Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.
tagesschau.de: Was wird aus den 22 konservativen Rebellen?
Von Ondarza: Es gibt einige wie den ehemaligen Finanzminister Philip Hammond, die sagen: Wir werden den Kampf weiterführen. Da ist noch offen, ob sie jetzt als unabhängige Konservative antreten, sich den Liberaldemokraten anschließen oder vielleicht sogar eine eigene Splitterpartei gründen. Einen Beitritt zur Labour-Fraktion halte ich für relativ ausgeschlossen, denn gerade viele dieser moderaten Konservativen sehen Corbyn mit seiner radikalen Wirtschaftspolitik fast genauso kritisch wie den Brexit.
Die Fragen stellte Jasper Steinlein, tagesschau.de.