Türkisch-griechische Grenze "Die EU hätte eine Lösung finden müssen"
Die EU hat nach Ansicht des Türkei-Experten Brakel eine Mitschuld an der Situation im Grenzgebiet zu Griechenland. Das bisherige Abkommen habe die schwierige Situation von 2015 nur verzögert, sagte Brakel im Interview.
tagesschau24: Hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Flüchtlingsdeal mit der EU jetzt quasi aufgekündigt?
Kristian Brakel: Ich kann mir gut vorstellen, dass beide Seiten, wenn der Staub sich wieder legt, ein Interesse haben, an diesem Deal festzuhalten. Aber so wie es jetzt ist, ist der Deal aufgekündigt, denn die türkische Seite erfüllt die Zusagen nicht mehr.
tagesschau24: Es gibt Stimmen, die sagen, die EU hätte die Türkei mehr unterstützen müssen. Sehen Sie das auch so?
Brakel: Das ist sicherlich so. Dieser Deal, der sowieso viele Fehler hatte, weil er auf dem Rücken der Geflüchteten ausgetragen wurde, hat die schwierige Situation von 2015 einfach nur nach hinten verschoben. In dieser Zeit wäre es an der EU gewesen, eine Lösung zu finden, zumindest einen gemeinsamen politischen Ansatz zu finden, wie man mit der Verteilung von Geflüchteten umgehen will. Das ist nicht passiert. Und das Grundproblem ist, dass man kein gemeinsames europäisches Vorgehen zu Syrien gefunden hat. Denn da liegt weiterhin die Ursache für viele dieser Probleme.
Kristian Brakel ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Brakel studierte Islamwissenschaft in Hamburg und Izmir. Er arbeitete u.a. als Referent für politische Zusammenarbeit für das Auswärtige Amt in den palästinensischen Gebieten. Er war zudem Büroleiter der EU-Sonderbeauftragten für den Sudan und Berater des EU-Sonderbeauftragten für den Nahostfriedensprozess in Brüssel.
tagesschau24: Der Anlass für Erdogans Entscheidung ist in Syrien zu finden. Was hat die Lage in Idlib mit der Situation an der türkisch-griechischen Grenze zu tun?
Brakel: Die Türkei hat sich zu diesem Schritt entschlossen, weil sie Druck auf die EU ausüben möchte - und auf die NATO, damit die sich in Idlib an ihre Seite stellt. Die Türkei hat dort eine Militäroffensive begonnen, ging am Wochenende gegen die Armee des syrischen Regimes und ihrer Verbündeten vor. Die Türkei versucht zu verhindern, dass das Regime Idlib überrennt - aus Angst, dass dann die türkische Grenzbefestigung dem Zustrom der nachkommenden Geflüchteten aus Syrien nicht mehr standhalten würde und dass sich die Situation auch in der Türkei massiv verschlechtern könnte.
tagesschau24: Wenn Erdogan offenbar versucht, die Europäische Union unter Druck zu setzen: Erreicht er durch die Öffnung seiner Grenzen nicht das Gegenteil? Also verspielt er nicht auch Vertrauen?
Brakel: Ich glaube, vom Vertrauen zwischen den Europäern und den Türken ist ohnehin nicht mehr viel übrig. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder starke Eskalationen gesehen, nach denen zumindest das Verhältnis zu bestimmten Mitgliedstaaten - wie den Niederlanden - anschließend in Scherben lag. Man sollte denken, dass Erdogans Entscheidung nicht sonderlich geeignet ist, Unterstützung von seinen Verbündeten zu bekommen. Aber wo er vielleicht richtig kalkuliert, ist die Verzweiflung der Europäer. Sie haben den Wunsch, dass es nicht wieder zu einer Flüchtlingswelle wie 2015 kommt und sind deshalb vielleicht bereit, große Opfer zu bringen. Er hofft, dass sie ihm deshalb doch die Unterstützung gewähren, die er möchte - auch wenn man ihn eigentlich politisch nicht unterstützen will.
Türkei will Druck auf EU ausüben
tagesschau24: Nun gibt es Zusammenstöße an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Welche Möglichkeiten hat Griechenland in dieser Situation? Das Land sichert seine Grenzen und hat das Asylrecht für einen Monat quasi außer Kraft gesetzt. Ist das die richtige Maßnahme?
Brakel: Aus meiner Sicht ist das nicht die richtige Maßnahme. Es kann nicht sein, dass wir europäische Werte - Menschenrechte und die Rechte von geflüchteten Menschen - außer Kraft setzen. Das sind Werte, die wir in Europa eigentlich verteidigen möchten. Was verteidigen wir dann eigentlich noch? Bei der Aussetzung des Asylrechts kann man darüber streiten, ob das in der Praxis große Bedeutung hat. Denn in Griechenland werden Asylanträge sowieso lange verschleppt - da ist mit einem Monat überhaupt nichts gewonnen. Aber die anderen Maßnahmen - mit Gummigeschossen und Tränengas auf Gruppen von Geflüchteten zu schießen - das entspricht in keinem Fall dem, wofür die EU eigentlich stehen sollte.
Zwei Personen sind schon ums Leben gekommen - ein syrischer Geflüchteter und ein Kind. Die griechische Küstenwache drängt massiv Boote ab und schlägt Leute. Der Weg, den die Griechen eingeschlagen haben, ist schon sehr, sehr zweifelhaft. Wir brauchen ein funktionierendes Asylsystem: schnelle Entscheide sowie Aufnahme und Schutz für diejenigen, die wirklich aus Kriegsgebieten kommen und diesen Schutz verdienen.
EU muss sich über Flüchtlingsaufnahme einigen
tagesschau24: Was würden Sie der EU jetzt raten?
Brakel: Da gibt es zwei Dinge. Zum einen: die Lage in Griechenland. Die war schon vor dieser Eskalation mit der Türkei sehr schwierig. Da haben wir ein völlig disfunktionales System: das Asylsystem in Griechenland und das Problem, dass die EU-Staaten sich nicht auf ein gemeinsames System einigen konnten, was die Verteilung von Geflüchteten angeht. Hier sollte sich eine Allianz aus willigen Staaten bilden - beispielsweise Deutschland, Frankreich und die Niederlande -, die bereit sind, Personen aufzunehmen.
Das zweite ist die größere Krise: die an der türkisch-syrischen Grenze. Dort sind in den vergangenen Wochen durch die Offensive des syrischen Regimes auf Idlib rund eine Million Menschen - davon fast 80 Prozent Frauen und Kinder - hin geflüchtet. Sie leben unter sehr schwierigen Bedingungen. Hier könnte die EU helfen, indem sie Personen aus diesem Gebiet aufnimmt. Denn die andere Alternative - die Erdogan auch anstrebt - wäre eine militärische Unterstützung für die Türkei in Idlib. Das wird wahrscheinlich weder in Deutschland noch in den meisten anderen EU-Mitgliedsländern durchsetzbar sein.
Das Interview führte Jan Malte Andresen. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und leicht gekürzt. Die vollständige Fassung finden Sie als Video auf dieser Seite.