100 Jahre türkische Republik Regionalmacht auf internationaler Bühne
Gründungsvater Atatürk krempelte die Türkei mit seinen Reformen um. Der heutige Präsident Erdogan sieht und inszeniert sich in seiner Tradition - dabei ist sein Kurs in vielen Punkten gegensätzlich.
Wenn man in diesem Tagen die Straße an der Uferpromenade Istanbuls Richtung Besiktas fährt, ist es kaum zu übersehen: Die Türkei feiert ihren 100. Geburtstag. Überall hängen Fahnen, das Porträt von Staatsgründer Atatürk ist allgegenwärtig. Eine stolze Republik präsentiert sich. Das wird auch wenige Meter weiter im Marinemuseum Deniz Müzesi deutlich: Die Geschichte der Seestreitkräfte vom Osmanischen Reich bis in Republikzeiten wird darin dargestellt. Dazu passt, dass der jetzige Präsident Recep Tayyip Erdogan erst im Juni das neue Flaggschiff der türkischen Marine, ein riesiges Landungsschiff mit dem Namen Anadolu eingeweiht hat, sein Land als militärische als Großmacht präsentierte.
Kemal Atatürk modernisierte die Türkei - allerdings diktiert von einer kleinen, urbanen Elite von oben. Das Kalifat wurde aufgehoben, eine neue Verfassung oder eine neue Schriftform eingesetzt. Familiennamen und ein Wahlrecht für Frauen wurden unter Atatürks Herrschaft eingeführt, eine neue Hauptstadt ernannt und der Laizismus, also die strikte Trennung zwischen Staat und Religion, in der Verfassung verankert. Und: Die Türkei verordnete sich außenpolitische Neutralität, während sie sich in Richtung Westen orientierte.
Erdogans Selbstposition
Auch Erdogan steht für politische Umwälzungen, wurde bereits als Istanbuler Bürgermeister ab 1994 durch seine effiziente und volksnahe Amtsführung populär. Mit seiner AKP gewann er ab der Jahrtausendwende alle Parlamentswahlen und formte den Staatsapparat immer mehr zu seinen Gunsten um, was auch den Aufstieg des politischen Islam bedeutete.
In der Außenpolitik tritt die Türkei Erdogans seit 2002 immer selbstbewusster auf. Politikwissenschaftler wie Suat Özcelebi von der Politikberatung Sita Consulting halten fest, Erdogan der Präsident habe "die Vision, ein zweiter Atatürk" zu werden.
Schlüsselposition - nicht nur geographisch
Die Außenpolitik der Türkei bestimmte in den letzten Jahren vor allem der Präsident selbst. Erdogan, oft unberechenbar, passt seine Politik der Lage an. Fachleute sprechen auch von so genannter Schaukel- oder 360-Grad-Politik.
Die geographische Lage macht die Türkei zu einem wichtigen Akteur im internationalen Machtgefüge. Das Land an der Südostflanke der NATO verfügt über die zweitgrößte Armee des Bündnisses und erstreckt sich von Asien nach Europa, grenzt an Griechenland, Bulgarien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, den Iran, den Irak und an Syrien. Eine Position, die Ankara für sich zu nutzen weiß. Trotz der abgesagten EU-Beitrittsgespräche ist die Türkei immer noch ein wichtiger Akteur für die europäische Sicherheitsarchitektur.
Uneindeutige Haltung zu Russland
Zwar verurteilt Ankara Russlands Vorgehen in der Ukraine, als einziges NATO-Mitglied beteiligt es sich aber nicht an den Sanktionen. Erdogan hat enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin - auch, weil sich ihr politisches Handelt oft ähnelt. Gleichzeitig ist die Türkei abhängig von russischen Rohstoffen, auch hilft Russland beim Bau des ersten türkischen Kernkraftwerkes bei Mersin.
Diese Gemengelage erklärt möglicherweise die aktive, aber neutrale Position der Türkei in Russlands Krieg in der Ukraine. Denn hinzu kommt: Auch Kiew und Ankara sind wichtige Handelspartner und haben Abkommen und Vereinbarungen über Waffenverkäufe in Milliardenhöhe unterzeichnet. Etwa setzt die Ukraine zu Verteidigung Kampfdrohnen ein, die von der Türkei geliefert werden.
Aufgrund dieser Beziehungen konnte Erdogan das sogenannte Getreideabkommen zwischen den Kriegsparteien und der UN erfolgreich vermitteln. Politikwissenschaftler Özcelebi sagt: "Die Türkei kann viele wichtige Funktionen als Vermittler übernehmen, da der Westen in eine Sackgasse geraten ist." Selbst wenn das Getreideabkommen wieder auf Eis liege, werde Erdogan wohl in weiteren möglichen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen. Er sehe sich gerne in der Rolle des gewieften Taktikers.
Ambivalentes Verhältnis zu Nachbarstaaten
Die Beziehungen der Türkei zu Ägypten und Syrien hatten sich nach den Aufständen des Arabischen Frühlings 2011 verschlechtert, denn Ankara hatte zuvor die dortigen oppositionellen Kräfte unterstützt.
Doch nachdem sich die wirtschaftliche Lage in der Türkei immer weiter verschlechterte, startete der Präsident 2021 eine diplomatische Offensive gegenüber den Nachbarstaaten, die zur Verbesserung der Beziehungen und zu Staatsbesuchen und Investitionsvereinbarungen für die türkische Wirtschaft führte.
Im Juli 2023 unterzeichneten die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate Verträge im Umfang von mehr als 50 Milliarden US-Dollar. Auch mit Saudi-Arabien wurden eine Reihe von Absichtserklärungen in verschiedenen Bereichen unterzeichnet.
Zudem hat Erdogan Ambitionen, die Türkei als einflussreiche Großmacht auf der geopolitischen Weltbühne zu platzieren. So wurde auf Erdogans Geheiß auch das militärische Engagement Ankaras im Ausland ausgebaut. Unter anderem in Libyen, Katar und Somalia ist das Land ein wichtiger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Akteur.
Inszenierung als Schutzherr der Muslime
Auch in der jetzigen Krise, im Krieg Israels mit der Hamas, agierte Erdogan anfangs umsichtig. So versicherte er zwar, an der Seite seiner "palästinensischen Brüder" zu stehen, bekundete aber durchaus Bereitschaft, als Vermittler aufzutreten. Der Politologe Özcelebi meint aber, dass die "angesichts der türkisch-amerikanischen Beziehungen gerade nicht angebracht" sei.
Hier ist zugleich ein bedeutender Unterschied zur Politik Atatürks: Erdogan inszeniert sich als Schutzherr der Muslime, nimmt auch Stimmungen auf. Als er merkte, dass die arabische Welt hinter der Hamas steht, justierte er nach, sprach von "Massakern im Gaza-Streifen" und bezeichnete die Hamas-Terroristen als "Freiheitskämpfer".
Außenpolitik ist auch immer Innenpolitik
Das "Jahrhundert der Türkei" war eines der wichtigstenThemen im diesjährigen Wahlkampf Erdogans. Außenpolitik war und ist für Erdogan aber auch immer Innenpolitik: Je größer und mächtiger die Türkei im Kontext der Großmächte mitmischt, desto größer ist seine Unterstützung im Land.
Für die einen ist Erdogan ein machtbewusster, autoritärer Herrscher. Für die anderen der Architekt einer selbstbewussten, modernen Türkei.
Sollte er weitere fünf Jahre im Amt bleiben, wird er also voraussichtlich ein Vierteljahrhundert ohne Unterbrechung an der Macht gewesen sein - länger als der Republikgründer Atatürk.