Smartphone mit verschiedenen Socialmedia icons
Kontext

Krieg in sozialen Netzwerken Warum pro-palästinensische Posts dominieren

Stand: 23.11.2023 16:21 Uhr

Seit dem Angriff der militant-islamistischen Hamas ist der Krieg in Nahost auch in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig. Erste Analysen zeigen, dass die pro-palästinensische Seite dort deutlich die Oberhand besitzt.

Von Oliver Mayer-Rüth, BR und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Der Krieg im Nahen Osten ist auch in den sozialen Medien seit Wochen ein Thema. Vor allem auf TikTok, dem Kurznachrichtendienst X und Instagram gibt es unzählige Posts, Videos und Infotafeln. Geschichten über das Leid der Palästinenser, über radikale jüdische Siedler oder die rechtsreligiöse israelische Regierung bekommen viel Zustimmung in Form von Likes.

Im Gegensatz dazu haben es Posts, die den Terror der militant-islamistischen Hamas, das Leid der Angehörigen israelischer Geiseln oder von am 7. Oktober Ermordeten darstellen, schwer. Diese gehen deutlich weniger viral, werden also weniger geliked und weniger oft gesehen. Denn die Plattformen schieben in die Timelines der Nutzer vor allem Inhalte, die von vielen positiv bewertet und lange angesehen werden.

Der Algorithmus kenne kein journalistisches Gatekeeping und achte auch nicht auf Ausgewogenheit, sagt Benjamin Gust, Professor der Technischen Hochschule Mittelhessen. Vielmehr interessiere sich die Rechenformel für nackte Zahlen.

Pro-palästinensische Hashtags dominieren

Gust hat sich für tagesschau.de die Plattformen TikTok und Instagram angesehen. Bei Instagram gebe es zum Hashtag "FreePalestine" 5,6 Millionen Beiträge, so Gust. Beim Hashtag "IsraelUnderAttack" gebe es hingegen lediglich 132.000 Beiträge, beim Hashtag "FreeIsrael" 22.300 Beiträge.

Genauso gravierend ist der Unterschied bei TikTok. Beiträge und Videos mit dem Hashtag "FreePalestine" wurden 23,1 Milliarden mal gesehen. Wenn man Hashtags mit Rechtschreibfehlern wie "FreePalestin" oder mit Flaggen-Emoji dazurechne, käme man auf etwa 29 Milliarden Aufrufe mit pro-palästinensischen Inhalten. Pro-israelische Inhalte hätten "bei gleicher Rechenart inklusive Varianten etwa 211 Millionen Aufrufe", so Gust.

Betrachtet man die Interaktionen als Maßstab der Analyse, so ergeben sich noch einige weitere Auffälligkeiten, sagt Kim Robin Stoller vom Internationalen Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung in Berlin (IIBSA). Hashtags wie "FreePalestine" erhalten demnach bei Instagram-Seiten international mehr als 160 Millionen Interaktionen. Im deutschsprachigen Raum seien es im Moment hingegen lediglich mehr als 200.000.

"Im deutschen Kontext finden sich unter den interaktionsstarken Beiträgen neben Islamisten auch Kritiker der Parole, wie die Partei CDU", so Stoller. "International kann aber davon ausgegangen werden, dass es sich dabei aber vor allem um Befürworter der Hamas oder anti-israelische Positionierungen handelt."

Alter der Nutzer ein Faktor

Der deutliche Unterschied dürfte nach Ansicht von Gust unter anderem am Verhältnis der Anzahl von Muslimen und Juden liegen. Schätzungen zufolge gibt es weltweit gut 15 Millionen Juden und mehr als zwei Milliarden Muslime. Es sei logisch, dass bei dem Verhältnis zu der einen Thematik mehr gemacht werde als zu der anderen, so Gust.

Die Religionszugehörigkeit ist jedoch nicht der einzige Faktor: Vor allem eine geografische oder politische Nähe zum Nahost-Konflikt spielt Untersuchungen zufolge eine Rolle, was die Zustimmung anti-israelischer und antisemitischer Einstellungen betrifft. Nach Angaben der Anti-Diffamierungs-Liga (ADL) sind beispielsweise Christen im überwiegend muslimischen Libanon häufiger antisemitisch eingestellt als etwa Muslime in Bosnien und Herzegowina.

Auch das Alter der User ist nach Angaben von Experten ein wichtiger Faktor. Denn vor allem TikTok ist bei jungen Menschen sehr beliebt. Einem Bericht des Reuters Institute for the Study of Jounalism zufolge nutzt ein Fünftel der 18- bis 24-Jährigen TikTok als Nachrichtenquelle. Einer Umfrage der Quinnipiac University unterstützen wiederum jüngere Menschen in den USA pro-palästinensische Positionen deutlich öfter als ältere. Die militärische Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas unterstützen beispielsweise nur 32 Prozent der 18- bis 24-Jährigen - bei den 50- bis 64-Jährigen sind es 58 Prozent.

Algorithmus belohnt viele Interaktionen

Durch die deutlich höheren Posting- und Interaktionsraten würde der Algorithmus der sozialen Netzwerke die pro-palästinensischen Inhalte begünstigen, sagt Gust. Denn der Algorithmus beobachte unentwegt das Nutzervehalten und zählt die Likes. Verweilen User wesentlich länger bei pro-palästinensischen Posts und erhalten diese mehr Likes, gehe der Algorithmus davon aus, dass alle Nutzer der Plattform großes Interesse an dem Post haben sollten.

Social-Media-Posts, die das palästinensische Narrativ verbreiten, erscheinen folglich wesentlich öfter in der Nutzer-Chronik, so Gust. Das gelte sowohl welt-, als auch deutschlandweit. Die Konsequenz: Unabhängig vom Wahrheitsgehalt, der Stichhaltigkeit der Argumente und journalistischen Qualitätskriterien wie etwa Ausgewogenheit, liege die Deutungshoheit beim pro-palästinensischen Narrativ. 

Bereits bei der letzten größeren militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2021 hatten pro-palästinensische Accounts die sozialen Netzwerke für eine konzertierte Aktion genutzt, um das eigene Narrativ möglichst reichweitenstark zu verbreiten, wie das Projekt "Videoaktivismus" analysierte. Dabei stand vor allem TikTok im Fokus der Aktivisten.

In einer Untersuchung des Journals Arab Media & Society des X-Accounts der militant-islamistischen Hamas heißt es, die Terrororganisation habe durch den Ausbau ihres Kommunikationsnetzes ihre Narrative deutlich besser darstellen können. Der Autor der Untersuchung schreibt, dass X der Hamas Raum gegeben habe, "um ein Publikum in der ganzen Welt zu erreichen, und somit ihre Argumente und Konstruktionen der Ereignisse in Palästina verstärkt".

Weniger Reichweite für Ausgewogenheit?

Das alles wiederum kann Einfluss auf die User haben, die Inhalte zum Krieg in Nahost produzieren. Denn die Währung im Internet sind Likes, Reposts und Follower. Umso mehr Zustimmung ein Post bekommt, desto mehr User sehen diesen und entscheiden sich womöglich, dem Verfasser zu folgen.

Redaktionen beziehungsweise Influencer, die um Ausgewogenheit bemüht sind, haben dadurch möglicherweise größere Mühe, Reichweite zu erlangen, als solche, die immer wieder Posts verbreiten, die sich insbesondere mit dem Schicksal der Palästinenser befassen.

Welche Konsequenz hat das für Nutzer?

Sucht ein Nutzer nach Posts mit dem Hashtag "FreePalestine" oder sieht sich besonders lange ein Video an, das beispielsweise das Leid der Palästinenser im Gazastreifen darstellt, füttert der Algorithmus die Chronik des Nutzers immer wieder aufs Neue mit ähnlichen Posts.

Posts, die etwa das Schicksal der entführten Geiseln thematisieren, kommen dann hingegen kaum noch oder gar nicht mehr vor. Der Nutzer befindet sich in der sogenannten Echokammer und hat einen zunehmend einseitigen Blick auf den eigentlich hochkomplizierten Themenkomplex, so Gust. 

Kritik von der Politik

Von Seiten der Politik gab es aufgrund der vielen Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken seit dem Angriff der militant-islamistischen Hamas zum Teil harsche Kritik an die Plattformbetreiber. Die EU-Kommission hatte beispielsweise Verfahren gegen den Facebook-Mutterkonzern Meta, den Kurzmitteilungsdienst X und TikTok wegen der Verbreitung von Falschinformationen angekündigt.

Nach Angaben von TikTok löschte die Plattform daraufhin mehrere Hunderttausende Videos im Zusammenhang mit dem Krieg in Nahost. Zudem teilte das Unternehmen in einem Statement mit, dass die Plattform nicht pro-palästinensisch voreingenommen sei. "Unser Empfehlungsalgorithmus ergreift keine Partei und verfügt über strenge Maßnahmen, um Manipulationen zu verhindern", heißt es in einem Statement. TikTok verwies außerdem darauf, dass auch bei Instagram und Facebook deutlich mehr Posts mit dem Hashtag "FreePalestine" erstellt wurden als mit "StandWithIsrael".