Mitarbeiter bei Rheinmetall arbeiten an einer Kanone für den Kampfpanzer Leopard 2A4.

Nach der "Zeitenwende" Aufbruchstimmung in der Rüstungsindustrie

Stand: 05.09.2024 19:09 Uhr

Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist Aufrüstung wieder ein gesellschaftsfähiger Begriff in Deutschland. Doch ist die Verteidigungsfähigkeit in wenigen Jahren erreichbar?

Zum Wort des Jahres hat es die von Kanzler Scholz ausgerufene "Zeitenwende" schon 2022 geschafft - zu einer spürbaren Verbesserung der Wehrfähigkeit, für die sie erfunden wurde, nach gut zwei Jahren aber allem Anschein nach noch nicht.

Das 100-Milliarden-Sondervermögen führt dieses Jahr erstmals dazu, dass Deutschland der Verpflichtung gegenüber seinen NATO-Partnern nachkommt, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung auszugeben. Aber das ganze Geld ist schon wieder verplant. Bereits 2028 droht erneut eine Lücke, sollte die Regierung den Wehretat nicht langfristig kräftig anheben.

Mehrfach Kritik von der CDU

Das Sondervermögen könnte also seine Wirkung als echter Sondereffekt verfehlen und keinen Boost-Effekt für die Bundeswehr bringen. Mehrfach kritisierte die CDU, die Regierung sei sich immer noch nicht bewusst, welche Herausforderung in Sachen Verteidigung sie habe: die Nachwuchsfrage, die Finanzierung der Bundeswehr, die Überregulierung und allem voran die Beschaffungsorganisation habe noch keine Fortschritte gemacht.

Zur Beschaffungsorganisation kommt in diesen Tagen ein Input von Industrieseite: Auf der Rüstungskonferenz RüNet in Koblenz trifft sich die Rüstungslobby, um über Rationalisierungseffekte bei der deutschen und internationalen Nachrüstung zu sprechen - nicht ganz zufällig in Koblenz, denn dort residiert auch das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw).

Motto der Konferenz: "Rüstung aus dem Regal". Was hinter diesem Credo steckt, ist klar: Zu differenziert, zu kleinteilig, zu detailverliebt und zu langwierig in Ausschreibung und Genehmigung sind viele Aufträge. Armeen wie Herstellern würde es helfen, wenn mehr marktverfügbare Produkte bestellt würden.

Die Industrie will verbindliche Verträge

In Koblenz trifft die Nachfrage auf das Angebot, die Beschaffungsseite auf die Lieferanten, und Letztgenannte meinen, dass weniger Bürokratie und mehr Planungssicherheit die von Verteidigungsminister Boris Pistorius geforderte "Kriegsfähigkeit" realistischer machen würde.

"Sicherlich ist seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine die Bereitschaft in der Politik gewachsen, sich eingehender mit Verteidigungs- und Rüstungsfragen auseinanderzusetzen. Die Beschaffungsprozesse auf der Kundenseite haben sich spürbar beschleunigt", sagt Thomas Gottschild, Geschäftsführer der MBDA GmbH, die unter anderem den im Zusammenhang mit der Ukraine-Unterstützung viel diskutierten "Taurus"-Marschflugkörper produziert.

Ein allgemeines Verständnis industrieller Prozesse, Zeitläufe und Zusammenhänge setze sich dagegen nur langsam durch, sagt er. Die Industrie brauche verbindliche Verträge. Das Gesetz verbiete eine Produktion auf Vorrat ohne entsprechenden Auftrag.

Heimische Kapazitäten stärken

"Fakt ist, wir brauchen einen permanenten Fluss an Produktion und Investitionen in neue Fähigkeiten", sagt Gottschild. "Wir müssen eine Grundlastfinanzierung hinbekommen, die uns erlaubt, die vorhandenen Produktionslinien dauerhaft zu betreiben und die Entwicklung neuer Fähigkeiten voranzutreiben." Heimische Kapazitäten würden so gestärkt und gleichzeitig die Abhängigkeit vom Ausland verringert.

Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Streitkräften, Politik und Industrie dank Sondervermögen sieht Vizeadmiral Carsten Stawitzki, Abteilungsleiter Rüstung im Bundesministerium der Verteidigung. "Das hat erst die Grundvoraussetzung dafür geschaffen, in die Beschaffung und in die Vertragsverhandlungen mit den industriellen Partnern zu gehen", so Stawitzki. "Dieses Anwenderforum hier in Koblenz ist ein zentraler Dreh- und Angelpunkt. Man kann die Zeitenwende nur gestalten, indem man im engen Schulterschluss das Ganze miteinander wuppt."

Hoffnung auf neue Aufträge

Rüstung aus dem Regal kann seiner Meinung nach bei der schnellen Nachrüstung ein entscheidender Punkt sein: "Wir sind bei vielen Produkten auf die sogenannte Marktverfügbarkeit umgeschwenkt, haben geschaut, was der Rüstungs- und Verteidigungsmarkt anbietet, machen das sogar auch gerne in internationaler Kooperation mit weiteren Partnern."

Verteidigungsexperte Oberst a.D. Ralph D. Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft, Präsident von EuroDefense und CEO von StratByrd Consulting. Er spricht von einer Aufbruchstimmung in der Rüstungslobby.

Bei der Konferenz in Koblenz erhofften sich viele Teilnehmer neue Aufträge, doch so schnell gehe das nicht: Zum Beispiel eine gute Luftverteidigung über Deutschland aufzubauen, dauere "noch ein paar Ewigkeiten", so Thiele. "Wir haben ja unseren eigenen Schutz, die 'Patriot'-Raketen, an die Ukraine abgegeben. Jetzt kommt 'Iris-T', das erste von sechs Systemen ist da. Das 'Arrow'-Luftverteidigungssystem kommt dann in zwei Jahren. Das Ganze zusammen wird 2027 einsatzbereit sein."

Vernünftige Nachrüstung statt Aufrüstung?

Nicht jedem ist bei solcher Kriegsretorik wohl, wenn mittlerweile ganz selbstverständlich von Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit gesprochen wird. Thiele versucht zu beruhigen: "Uns sollte auch aus anderen Gründen unheimlich sein. Wenn man sagen würde, unsere Verteidigung ist wie ein Schweizer Käse, wäre das ein Euphemismus oder eine Übertreibung. Wir haben nichts, und schutzlos zu sein ist kein guter Gedanke."

Auf der anderen Seite gehe es nicht darum, das gesamte Bruttosozialprodukt in Rüstung zu stecken, "sondern wir müssen jetzt klug gute High-End-Technologie für preiswertes Geld kaufen, um unsere Bürger zu schützen". Für Thiele gehe es um eine vernünftige Nachrüstung, keine Aufrüstung.

Kabinett beschließt "Artikelgesetz Zeitenwende"

Doch welche Sicherheit bringt all die Nachrüstung, wenn für die Bedienung der Waffensysteme das Personal fehlt? Eines der größten Probleme der Bundeswehr ist die Truppenstärke: 180.000 Männer und Frauen sind als Berufs- beziehungsweise Zeitsoldaten und als freiwillige Wehrdienstleistende bei der Bundeswehr.

Bis zum Jahr 2031 soll die Zahl eigentlich auf 203.000 Soldaten steigen. Jedes Jahr müssten dafür 3.000 Leute mehr eingestellt werden als aus dem Dienst ausscheiden.

Als Anreiz hat das Kabinett diese Woche das "Artikelgesetz Zeitenwende" beschlossen, das die Bezahlung der Soldaten verbessern soll. Das scheint ein Anfang. Aber ob ohne die diskutierte Dienstpflicht oder die Erwägung der Anwerbung von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit angestrebte Zahl erreicht werden kann? Dazu hat auch die Rüstungskonferenz in Koblenz keine Antwort geliefert.