Sepp Müller

Unionsfraktionsvize Müller "Der Bundeskanzler lebt in einem Paralleluniversum"

Stand: 23.06.2024 07:57 Uhr

Unter den Arbeitern ist die AfD mittlerweile stärkste Kraft. Sepp Müller will ihr nicht das Feld überlassen. Der CDU-Politiker setzt auf eine Mischung aus Erleichterungen und sozialpolitischer Härte.

Die Stimmung, die ihm entgegenschlägt, sei eindeutig, sagt Sepp Müller. "Die Menschen, die arbeiten gehen, haben die Nase voll." Der Bundestagsabgeordnete und Fraktionsvize der Union berichtet aus Unternehmensbesuchen und Bürgergesprächen der vergangenen Monate. Immer wieder habe es dort geheißen, man müsse Menschen "alimentieren, die für unseren Staat nichts leisten wollen". Gleichzeitig lasse der Staat die Bürger beim Heizungsgesetz und mit dem Abwickeln der E-Auto-Prämie im Stich.

Müller spricht von einer "hart arbeitenden Mitte", die ihm sage: "Entweder Ihr kümmert Euch um uns oder wir adressieren Eure falsche Politik mit unserem Wahlverhalten." Sprich: mit einer Stimme für die AfD. Müllers Fazit: "Die akzeptieren das nicht mehr."

Müller: Bundeskanzler lebt in "Paralleluniversum"

Müller will deshalb besonders um die Arbeiter kämpfen. Deren Unzufriedenheit spüre er zwar bundesweit, sagt aber auch: "In Ostdeutschland sind wir da nur feinfühliger, weil diese Mitte hier nach 1990 alles aufgebaut hat."

Der 35-Jährige aus Gräfenhainichen bei Dessau und Wittenberg ist der einzige Ostdeutsche im Fraktionsvorstand der Union. Er fungiert damit als eine Art Ostbeauftragter seiner Partei. 

Tatsächlich steht in Müllers anhaltinischer Heimat im Zuge der Energiekrise vor allem die Chemieindustrie unter Druck. Aussagen des Bundeskanzlers sorgen da für Unverständnis bei dem CDU-Politiker. Olaf Scholz hatte erst am Mittwoch die Region besucht und anschließend gesagt, Arbeitslosigkeit werde "ganz sicher nicht unser Thema in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein".

"Der Bundeskanzler lebt in einem Paralleluniversum", sagt Müller. Große Unternehmen entließen bereits erste Leute. Die Langzeitarbeitslosigkeit steige wieder. Auch die Frühjahrsbelebung auf dem Arbeitsmarkt sei schwächer ausgefallen als in Vorjahren.

AfD unter Arbeitern vorne

Nach der Europawahl sah sich Müller in seiner Analyse bestätigt. Die AfD holte unter den Arbeitern 33 Prozent der Stimmen. Die CDU kam mit 24 Prozent der Stimmen auf Platz zwei, die traditionelle Arbeiterpartei SPD nur noch auf zwölf Prozent. Das ist das Ergebnis einer Nachwahlbefragung von infratest dimap im Auftrag der ARD.

Andere Institute sehen die CDU zwar leicht vor der AfD, aber der Trend ist derselbe: Unter allen Berufsgruppen sind die Arbeiter die Machtbasis der AfD geworden. Die Union als stärkste Kraft hingegen ist am schwächsten. Müller liest das so: "Da ist noch Luft nach oben."

Bild: Wahltagsbefragung, Europawahl 2024, Stimmanteile unter Arbeitern | AfD 33,0 | Union 24,0 | SPD 12,0 | Grüne 6,0 | BSW 6,0 | Linke 3,0 | FDP 3,0 | Infratest-dimap. 10.06.2024, 02:49 Uhr

Bild: Stimmanteile unter Arbeitern

Sein erklärtes Ziel ist es, die CDU als Volkspartei auf 40 Prozent zu bringen. Dafür müssen Potenziale genutzt werden. "Wir müssen uns kümmern und unsere eigenen Themen setzen", sagt Müller. Seine Partei müsse auch stärker vor Ort präsent sein.

Müller selbst absolviert alle drei Monate ein eintägiges Praktikum in einem Betrieb seiner Region. Er hat Erdbeeren gepflückt, Karosserieteile geflext und ist Gabelstapler gefahren.

Das mag mancher für Showpolitik halten. Doch wie verankert Müller durch solche und andere Aktionen vor Ort ist, zeigen seine Wahlergebnisse: Bei der Bundestagswahl 2021 holte kein Kandidat in Ostdeutschland mehr Erststimmen als Müller. Bei den Kommunalwahlen Anfang Juni hat er als Kandidat für den Stadtrat und den Kreistag kräftig zugelegt.

Änderungen beim Bürgergeld und mehr Tarifbindung

Thematisch bieten Müller und die Union vor allem Vorschläge, die nach ihrer Lesart das Gerechtigkeitsempfinden der Arbeiterschaft befrieden würden. So sollen ukrainische Geflüchtete stärker zur Aufnahme einer Arbeit "aktiviert" werden. Eine neue Grundsicherung soll das Bürgergeld ablösen und Empfänger generell stärker zur Arbeit verpflichten. Bei den sogenannten Totalverweigerern im Bürgergeld handelt es sich allerdings nur um einige Zehntausend Menschen. 

Die Union fordert zudem, dass die Gesundheitsausgaben von Bürgergeldbeziehern nicht mehr aus den Beiträgen anderer Versicherter finanziert werden. Diese Ausgaben werden größtenteils staatlich gedeckt. Allerdings bleibt pro Jahr ein Defizit von rund 9 Milliarden Euro, so eine Studie des IGES-Institutes im Auftrag des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherer. Diese Lücke wird momentan durch andere Versicherte geschlossen.

Auch vom Vorstoß der Union, Überstunden steuerfrei zu stellen, könnten laut Müller Fabrikarbeiter profitieren. Ebenso von einer Pflegereform. Unkonkret bleibt Müller bei einer möglichen Senkung der Sozialversicherungsabgaben. "Wir werden uns das genau anschauen", sagt er nur.

Am Donnerstag der kommenden Woche wird die Unionsfraktion nun auf Müllers Initiative hin eine Betriebsrätekonferenz-Ost abhalten. Müller will den Fokus auf die Tarifbindung legen. Die geht in Deutschland insgesamt zurück und beträgt in Ostdeutschland nur noch 45 Prozent.

"Wir brauchen aber starke Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände", sagt Müller. Dahinter steckt auch das Kalkül, dass der Staat weniger stark in die Lohnbildung eingreifen sollte. Einen höheren gesetzlichen Mindestlohn lehnt Müller etwa als potenziellen Inflationstreiber ab.

Auch SPD und Linke werben

Das Votum der Arbeiterschaft hat derweil auch andere Parteien aufgeschreckt. SPD-Bundesvorsitzender Lars Klingbeil kündigte nach der Europawahl an, seine Partei werde "den Fokus noch stärker auf die arbeitende Mitte richten". Fraktionsvize Dirk Wiese äußerte sich ähnlich und nannte explizit auch Industrie- und Facharbeiter.

Die Absicherung einer Kita-Betreuung, Reformen bei der Pflege und bezahlbare Mieten sollen Arbeiterfamilien gewogen stimmen. Und auch die SPD diskutiert über eine Bürgergeldverschärfung. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte zudem kurz vor der Europawahl eine schrittweise Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro angeregt.

Die Linkspartei wiederum hatte bereits im November, nach dem Austritt Sahra Wagenknechts, ein Papier zur Wirtschaftspolitik beschlossen. Eine neue Industriestiftung sollte etwa durch Beteiligungen Arbeitsplätze sichern. Das war auch auf kriselnde Standorte im Osten gemünzt.

Nach der Europawahl berichtet der Spiegel über einen internen Vorschlag, die Partei wieder stärker gen Westdeutschland auszurichten. Schließlich befänden sich hier drei Viertel der Industriearbeitsplätze.