Bundeskanzler Willy Brandt stellt am 20.09.1972 vor dem Bonner Bundestag die Vertrauensfrage.
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Vier Kanzler nutzten das Mittel Die Geschichte der Vertrauensfrage

Stand: 11.11.2024 17:48 Uhr

In der Geschichte gab es schon mehrmals den Fall, dass ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellte und so den Weg zu Neuwahlen einschlug. Wie lange dauerte es jeweils, bis ein neuer Bundestag gewählt werden konnte?

Bundeskanzler Olaf Scholz strebt nach dem Ausscheiden der FDP aus der Ampelkoalition Neuwahlen an. Am 6. November verkündete Scholz, im neuen Jahr die Vertrauensfrage zu stellen, damit der Bundestag am 15. Januar darüber abstimmen und die Neuwahl Ende März stattfinden könne. Zwischen der Ankündigung und der Vertrauensfrage wären laut den ursprünglichen Plänen dann etwas mehr als zwei Monate vergangenen, bis zur Neuwahl nochmal in etwa zwei Monate. Nach Kritik aus den Reihen der Opposition und vom ehemaligen Koalitionspartner FDP ruderte der SPD-Politiker Scholz schließlich zurück. Nun ist er bei einer Einigung mit der Opposition zu einer schnelleren Vertrauensfrage bereit. Doch die Kritik bleibt.

Weiterhin Diskussion über den geeigneten Termin für Vertrauensfrage und Neuwahlen

Marc Feuser, ARD Berlin, tagesthemen, 11.11.2024 22:15 Uhr

In der Geschichte der Bundesrepublik stellten Bundeskanzler bislang fünfmal die Vertrauensfrage. In zwei Fällen nutzen die damaligen sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt (am 5. Februar 1982) und Gerhard Schröder (am 16. November 2001) die Vertrauensfrage, ohne dass daraus Neuwahlen folgten, da ihnen jeweils eine Mehrheit der Abgeordneten das Vertrauen aussprach.

In den drei anderen Fällen stellten die Bundeskanzler - Willy Brandt, Helmut Kohl und abermals Gerhard Schröder - den Antrag, um den Weg zu Neuwahlen einzuschlagen. Ähnlich wie von Scholz geplant, dauerte es auch bei Brandt, Kohl und Schröder Monate von der Ankündigung der Vertrauensfrage bis zur Neuwahl. Allerdings war bei keinem der drei Kanzler die Koalition geplatzt. Kohl und Schröder hatten sogar noch bis zur Neuwahl Koalitionsmehrheiten.

Willy Brandt (SPD) 1972

Willy Brandt nutzt als erster Kanzler der Bundesrepublik die Möglichkeit zur Stellung einer Vertrauensfrage. Zwischen ihrer Ankündigung und dem Stellen der Vertrauensfrage im Bundestag vergingen fast drei Monate. Bis zur Neuwahl des Bundestages vergingen danach noch einmal fast zwei Monate.

Der Vertrauensfrage und der folgenden Neuwahl ging 1972 ein Streit über Brandts damalige Ostpolitik voraus, der für eine Krise der Regierungskoalition sorgte. Nach Fraktionsaustritten aus der SPD/FDP-Koalition wechselte am 23. April ein weiterer Abgeordneter das Lager. Damit entstand ein Patt zwischen den Koalitionsparteien und der oppositionellen Union. Diese versuchte, die Situation zu nutzen, und beantragte mit ihrem Kandidaten Rainer Barzel (CDU) ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Brandt. Die Abstimmung am 27. April scheiterte knapp.

Am 28. April erklärte Brandt sich schließlich zu Neuwahlen bereit, nachdem er im Bundestag keine Mehrheit für seinen Kanzleretat finden konnte. Am 24. Juni kündigte der Kanzler an, die Vertrauensfrage stellen zu wollen, um Neuwahlen einzuleiten. Das sei nötig, um klare Verhältnisse zu schaffen. Kritiker bemängelten, eine absichtlich herbeigeführte Auflösung des Bundestags sei nicht im Sinne des Grundgesetzes.

Am 20. September stellte Brandt die Vertrauensfrage, in der Absicht, die Mehrheit zu verfehlen und damit Neuwahlen zu ermöglichen. Am 22. September erfolgte im Bundestag die Abstimmung zur Vertrauensfrage. Obwohl Brandts Koalition bereits keine Mehrheit mehr hatte, enthielten sich fast alle Regierungsmitglieder, um die von Brandt beabsichtigte Niederlage sicherzustellen. Bundespräsident Gustav Heinemann löste den Bundestag auf. Bei der Bundestagswahl am 19. November gewann Brandts SPD/FDP-Koalition eine klare Mehrheit.

Helmut Kohl (CDU) 1982/1983

Auch Helmut Kohl nutzte die Vertrauensfrage, um einer Neuwahl den Weg zu ebnen. Zwischen der Ankündigung der Neuwahl und der Vertrauensfrage vergingen zwei Monate, neu gewählt wurde dann fast drei Monate später.

Am 17. September 1982 zerbrach die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt. Grund war der Streit über die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Die FDP-Minister traten zurück, Schmidt führte eine Minderheitsregierung der SPD. Union und FDP stürzten Schmidt schließlich am 1. Oktober mit einem konstruktiven Misstrauensvotum und wählten Helmut Kohl zum Kanzler.

Kohl kündigte am 13. Oktober 1982 in seiner Regierungserklärung an, die Vertrauensfrage zu stellen, um Neuwahlen einzuleiten. Wie bei Brandt war auch Kohls Vorgehen umstritten. Der Kanzler verteidigte sein Vorgehen damit, dass er für den Regierungs- und Politikwechsel die Legitimation der Wähler suche. Am 13. Dezember stellte Kohl die Vertrauensfrage, in der Absicht, die Mehrheit zu verfehlen und damit Neuwahlen zu erreichen. Wie verabredet, versagten die Abgeordneten der CDU/FDP-Koalition Kohl am 17. Dezember das Vertrauen. Folglich löste Bundespräsident Karl Carstens den Bundestag am 6. Januar 1983 auf.

Mehrere Abgeordnete klagten vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Vorgehen Kohls, die Richter entschieden jedoch am 16. Februar zugunsten des Kanzlers. Das Gericht betonte aber, dass ein solches Vorgehen nur in einer echten Krise zulässig sei. Am 6. März gewann die Union die Bundestagswahl klar. Trotz Verlusten der FDP konnte Kohl seine schwarz-gelbe Koalition fortsetzen.

Gerhard Schröder (SPD) 2005

Zuletzt stellte Gerhard Schröder in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Vertrauensfrage. Zwischen der Ankündigung durch den Kanzler und dem Stellen der Vertrauensfrage im Parlament verging etwas mehr ein Monat. Rund zweieinhalb Monate dauert es dann bis zur Neuwahl.

Am 22. Mai 2005 hatten die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen die Landtagswahl gegen die CDU verloren. Es war die Fortsetzung einer Serie von Niederlagen bei Landtagswahlen angesichts der von Kanzler Gerhard Schröder und seiner rot-grünen Koalition eingeleiteten Arbeitsmarktreformen. Schröder kündigte deshalb die Vertrauensfrage an, um eine Neuwahl zu erreichen. Ähnlich wie zuvor bei Brandt und Kohl gab es Kritik. Neben verfassungsrechtlichen Bedenken hieß es auch, Schröder begehe "politischen Selbstmord".

Die Vertrauensfrage stellte Schröder am 27. Juni 2005, in der Absicht, die Mehrheit zu verfehlen und damit Neuwahlen zu ermöglichen. Vor der Abstimmung im Bundestag erklärte Schröder am 1. Juli zur Begründung, er habe keine sichere Mehrheit mehr. Zudem blockiere der Bundesrat seine Politik. Zur Fortsetzung seiner Reformen benötige er neue Legitimation durch das Volk, so der Kanzler. Bei der namentlichen Abstimmung verfehlte Schröder wie beabsichtigt die Mehrheit. Am 21. Juli löst Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auf und setzt Neuwahlen für den 18. September an.

Nach einer Klage mehrerer Abgeordneter billigt das Bundesverfassungsgericht am 25. August auch Schröders "unechte Vertrauensfrage". Das Gericht räumte dem Kanzler und dem Bundespräsidenten bei der Einschätzung der Stabilität der Regierung einen großen Entscheidungsspielraum ein.

Das Kalkül Schröders ging jedoch nicht auf. Bei der Bundestagswahl am 18. September verloren SPD und Grüne und büßten ihre Koalitionsmehrheit ein. Auch CDU/CSU verloren, während FDP und die Linke hinzugewannen. Am 22. November wählte der Bundestag mit der Mehrheit einer Großen Koalition aus Union und SPD schließlich Angela Merkel (CDU) zur Kanzlerin.

Was ist eine "unechte" Vertrauensfrage?

Gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes (GG) kann der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellen. Damit kann er sich vergewissern, ob er und seine Politik noch die Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag hat. Findet der Antrag keine Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen und es gibt Neuwahlen.

Die Vertrauensfrage kann nach Artikel 81 GG zudem mit bestimmten Entscheidungen, speziell mit einer Gesetzesvorlage, verbunden werden.

Bei einer "unechten" Vertrauensfrage wird bewusst angestrebt, bei der Abstimmung im Parlament nicht die erforderliche Mehrheit zu bekommen und so den Weg zu einer Neuwahl zu ebnen.
 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 11. November 2024 um 16:00 Uhr.