Delegitimierung des Staates Umstrittene Aufgabe für Verfassungsschutz
Das Bündnis Sahra Wagenknecht beklagt eine Einschränkung der Meinungsfreiheit durch den Verfassungsschutz. Auf Landesebene will das BSW nun Änderungen durchgesetzt haben. Doch es gibt Widerspruch.
Die Verhandlungen waren zäh und hätten die Partei fast zerrissen. Doch als ein Koalitionsvertrag in Thüringen stand, konnte das Bündnis Sahra Wagenknecht einige Erfolge für sich reklamieren. Dazu zählen Bundes- und Landesspitze in einer Pressemitteilung auch einen Sieg für die Meinungsfreiheit. So dürfe der Verfassungsschutz Thüringen "in Zukunft nicht mehr bei dem schwammigen Tatbestand der 'Delegitimierung des Staates' - also zur Einschränkung der Meinungsfreiheit - tätig werden".
Tatsächlich heißt es im Koalitionsvertrag zwischen CDU, BSW und SPD: "Der Verfassungsschutz widmet sich strikt und ausschließlich seinen verfassungsgemäßen Aufgaben." In einer ergänzenden Aufzählung dieser Aufgaben fehlt unter anderem die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates, die 2021 im Zuge radikaler Proteste gegen die Corona-Maßnahmen eingeführt wurde.
Innenminister Maier widerspricht BSW
Dass damit eine Einstellung der Beobachtung vereinbart sei, dem widerspricht Thüringens SPD-Landeschef Georg Maier. "Solange sich die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht ändern, wird dieser Phänomenbereich auch in Thüringen weiter beobachtet", sagte Maier tagesschau.de. Etwas Anderes werde er nicht zulassen.
Maier ist derzeit geschäftsführender Innenminister. Er wird auch als kommender Wirtschaftsminister gehandelt. CDU, BSW und SPD haben noch nicht final über die Zuteilung der Ministerien entschieden.
Ein Sprecher der CDU schreibt, entscheidend sei der Bezug zum Verfassungsschutzgesetz im Koalitionsvertrag. Dies schließe alle Aktivitäten ein, "die demokratiegefährdend und staatsfeindlich sind oder beispielsweise eine nicht durch demokratische Mittel angestrebte Absetzung von Politikern befürworten und auf diese Weise die Funktionsfähigkeit des Staates beeinträchtigen".
Verfassungsschutzpräsident: "Fachliche Bewertung liegt bei uns"
Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer teilt mit, der Koalitionsvertrag sei von ihm nicht zu kommentieren. Der Verfassungsschutz übe seine Tätigkeit "ohne politische Einflussnahme" aus und sei an Recht und Gesetz gebunden, so Kramer. Das Thüringer Verfassungsschutzgesetz listet unter den Aufgaben der Behörde etwa die Beobachtung von Bestrebungen, "die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (…) gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane (…) zum Ziel haben".
Kramer betont: "Die fachliche Bewertung im Rahmen dieser Aufgaben liegt ausschließlich beim Verfassungsschutz." Wer die Absicht habe, diese Tätigkeiten und Aufgaben neu zu definieren, müsse das Gesetz ändern.
Reaktion auf radikale Corona-Proteste
2021 reagierte der Verfassungsschutz auf eine zunehmende Zahl politisch nicht mehr klar zuordenbarer Delikte und extremer Äußerungen während der Corona-Pandemie. Das Bundesamt richtet gemeinsam mit allen Landesbehörden ein neues Beobachtungsobjekt ein: die "demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates".
Den dazugehörigen Phänomenbereich nannten die Verfassungsschützer verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. Diese steht seitdem neben anderen Bereichen wie Rechts- und Linksextremismus oder Islamismus.
Der Verfassungsschutz Thüringen schreibt in seinem aktuellsten Jahresbericht, die Szene beabsichtige, "durch systematische Verächtlichmachung kollektiv bindender Entscheidungen und Prozesse, das Vertrauen in die demokratisch legitimierten Vertreter und in das staatliche System insgesamt zu erschüttern".
Bundesweit bekanntester Akteur der Szene ist die "Querdenken"-Bewegung. In Ostdeutschland stehen hingegen oft "Montagsdemonstrationen" im Fokus, deren Themen von der Corona-Politik, dem Krieg in der Ukraine bis hin zu Migration und Asyl reichen. Dabei spielt auch Verschwörungsglauben immer wieder eine Rolle.
Debatte um Begriff und Meinungsfreiheit
Unter Verfassungsrechtlern ist der Begriff der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates umstritten, da die Abgrenzung von legitimer, von der Meinungsfreiheit gedeckter Regierungskritik schwerfalle. Diese Kritik macht sich das BSW zu eigen und spricht von einer Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Verfassungsschützer entgegnen dem, dass es ausschließlich um eine Kritik am Demokratieprinzip als solches gehe. Wiederholt stellten sie zudem fest, dass das Protestgeschehen nur zum Teil durch Extremisten geprägt war.
Fraglich ist, ob es den zusätzlichen Bereich braucht. Die Überschneidungen insbesondere mit Rechtsextremisten und "Reichsbürgern" sind hoch. Darauf verweist auch Thüringens Innenminister Maier. Der Landesverfassungsschutz konnte zuletzt nur "etwa 30" Staatsdelegitimierer keinem anderen Bereichen zuordnen. Eine Veränderung der Arbeitsdefinitionen dürfe allerdings nur im Einvernehmen von Bund und Ländern geschehen, sagt Maier.
Nach Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz kann jede Landesbehörde allerdings eigenverantwortlich über eine Beobachtung entscheiden. Die Behörden von Bund und Ländern sind zwar zur Zusammenarbeit verpflichtet, weisungsgebunden sind die Landesbehörde jedoch nicht.
So gehen die 16 Länder etwa unterschiedlich mit der Linkspartei und einzelnen radikalen Gruppen unter ihren Mitgliedern um. Ein gezielter Ausstieg eines Bundeslandes aus der Beobachtung eines gesamten Phänomenbereichs wäre allerdings offenbar präzedenzlos.
Diskussion auch in Brandenburg
Auch in Brandenburg haben sich SPD und BSW in dieser Woche auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Hier heißt es, der Verfassungsschutz werde sich "auf seine Kernaufgaben konzentrieren". Ob dazu die Beobachtung der Staatsdelegitimierer gehört, lässt das Brandenburger BSW auf Nachfrage offen. Der stellvertretende Landesvorsitzende, Niels-Olaf Lüders, erklärt nur, "über die weiteren Details der Aufgaben des Verfassungsschutzes" werde die Koalition, sollte sie zustandekommen, "beraten".
Laut SPD-Generalsekretär David Kolesnyk haben beide Parteien "keine explizite und auch keine gesonderte Vereinbarung" zum Status des fraglichen Phänomenbereich getroffen.
Ein Streitpunkt zwischen SPD und BSW war allerdings der gerade erst eingeführte Verfassungstreuecheck für neue Beamte. Das BSW hält den für "Gesinnungsschnüffelei" und konnte im Vertrag seine Überprüfung durchsetzen. Niels-Olaf Lüders kündigt dabei "grundlegende Veränderungen" an.
Szene verliert an Relevanz
In Brandenburg führt der Verfassungsschutz als Staatsdelegitimierer unter anderem einen Mann, der sich aktuell vor dem Oberlandesgericht Koblenz als Mitglied einer mutmaßlichen terroristischen Vereinigung verantworten muss. Er soll mit vier weiteren Angeklagten den Sturz der Bundesregierung und die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geplant haben.
Die Behörde geht insgesamt jedoch davon aus, dass der Phänomenbereich weiter an Relevanz verlieren wird. Akteure würden sich umorientieren, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2023. Gerade die AfD erscheine dabei "als attraktives Auffangbecken".
Über die Annahme der Koalitionsverträge in Thüringen und Brandenburg müssen die jeweiligen Parteien noch entscheiden. Die Wahlen der Ministerpräsidenten werden anschließend im Dezember erwartet. Erst danach würden Deutschlands erste Landesregierungen mit BSW-Beteiligung ihre Arbeit aufnehmen.