Landrat ermahnt Bundesregierung "Auf das Allernötigste konzentrieren"
Die Verwaltung in Deutschland ist überfordert, sagt Landrat Götz Ulrich aus Sachsen-Anhalt - wegen Krisen, aber auch wegen der Politik der Ampel. Diese müsse Wünsche hinten anstellen, sonst drohe ein handlungsunfähiger Staat.
Was in Berlin beschlossen wird, setzen zu einem Großteil die Kommunen um. Landkreise wie der Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt organisieren den ÖPNV, die Müllabfuhr, die Auszahlung verschiedener Sozial- oder Asylleistungen. "Hier kann man gut ablesen, was noch funktioniert - und was nicht", sagt Landrat Götz Ulrich. Und dieser Blick erfüllt ihn aktuell mit Sorge.
"Wir rutschen von einer Krise in die nächste", sagt Ulrich, CDU-Parteibuch und seit 2014 Landrat, beim Treffen in der Kreisverwaltung in Naumburg. Seit Jahren ziehe man permanent Personal irgendwo zusammen, sagt der 54-Jährige. Das bleibe nicht ohne Folgen. Wenn das Gesundheitsamt wegen Corona 150 statt 50 Mitarbeiter braucht, blieben schon mal Anträge für die Errichtung eines Windrades liegen. "Damals war das zu rechtfertigen", sagt Ulrich. "Aber es darf kein Dauerzustand werden."
Mitarbeiter längst an der Belastungsgrenze
Doch genau sei das eingetreten. Der Bund helfe dabei kräftig mit. Einerseits mangele es an Unterstützung, etwa in der Asylpolitik. "Allein die Landkreise in Sachsen-Anhalt sitzen auf 33 Millionen Euro zusätzlicher Kosten", sagt Ulrich, der auch Präsident des Landkreistages ist. Die von Innenministerin Nancy Faeser wiederholt in Aussicht gestellten freien Bundesimmobilien für weitere Unterkünfte gebe es hier nicht. Auch sei kein Personal von Land oder Bund abgeordnet worden, um immer mehr Menschen betreuen zu können.
Andererseits schaffe die Ampel-Regierung neue Baustellen. Ulrich nennt als Beispiel die Bürgergeld-Reform. Das Gesetz wurde nach mehreren Änderungen kurz vor Weihnachten 2022 verkündet. Umsetzung: ab 1. Januar. "Wir hatten letztlich eine Woche, um das so zu administrieren, dass die Bezieher trotzdem wenige Tage später ihre Leistung nach den neuen Regelungen bekamen", sagt Ulrich. Er habe Urlaubssperren ausgesprochen und Mitarbeitende aus dem Urlaub holen müssen. Das habe "natürlich keine Begeisterung hervorgerufen".
Seine Mitarbeiter hätten sich zu Beginn der Migrationskrise, der Pandemie und des Ukraine-Kriegs über Gebühr engagiert. Längst hätten sie aber die Belastungsgrenze erreicht. Es bleibe an Menschen hängen, "die es immer machen". Viele andere stünden nicht mehr zur Verfügung. Sie könne man zwar umsetzen, aber sie würden dann krank. "Wir sind überfordert", sagt Ulrich.
Dabei hätten Bund und Länder auch einfach die Regelsätze erhöhen können - und alle anderen Änderungen für das Bürgergeld in den nächsten Monaten angehen können. Auch die Reform des Wohngelds, die geplante Jobcenter-Reform und vor allem die umstrittene Kindergrundsicherung drohen Ulrich zufolge, die Verwaltung vor Ort weiter zu belasten.
"Die Ampel muss umdenken"
Ulrichs Fazit: "Wir haben eine Blase von Berufspolitikern in Berlin, denen die Reflexion über ihre eigenen Ideen abgeht." Die Ampel müsse nun umdenken und sich überlegen, "wo man Ideen und Wünschenswertes auch mal zurückstellt".
Es brauche den Blick für die Realität: Der Koalitionsvertrag mag viel gut Gemeintes enthalten, meint Ulrich. "Aber seit dem Ukraine-Krieg gehört er in weiten Teilen zu den Akten gelegt." Er spricht sich für ein Moratorium von Gesetzen aus, die Kommunen finanziell und personell weiter belastet würden. Sonst gehe bald gar nichts mehr.
Der Burgenlandkreis liegt im Süden Sachsen-Anhalts. Hier wurde die weltberühmte Himmelsscheibe von Nebra gefunden. Deutschlands bekanntester Sekt-Hersteller hat hier seinen Sitz, ebenso Ostdeutschlands größter Schlachthof. Aus Berliner Sicht spielt vor allem der Braunkohletagebau Profen eine wichtige Rolle: 432,5 Millionen Euro aus Kohle-Milliarden des Bundes erhält der Kreis zur Bewältigung des Strukturwandels.
Der Kreis hat seit vergangenem Jahr überdurchschnittlich viele Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen - und hatte in den Corona-Jahren ebenfalls überdurchschnittlich viele Tote zu verzeichnen. Sind die Aufgaben hier nicht einfach ein Stück größer - und man deshalb an der Leistungsgrenze? Landrat Ulrich verneint das. Die Situation sei anderswo ähnlich.
Umfrage: Mehrheit hält Staat für überfordert
Das zumindest deckt sich mit der Stimmung im Land. Laut einer Umfrage von "Forsa" im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes sehen 69 Prozent der Menschen in Deutschland den Staat als "überfordert" an. Es ist der Höchstwert in der seit 2019 durchgeführten Erhebung.
Die Zweifel betreffen längst nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft und Gesellschaft selbst. Der Soziologe Andreas Reckwitz sagte kürzlich im "Stern", das Fortschritts- und Wachstumsversprechen der Moderne habe "einen Knacks bekommen".
Reckwitz’ Kollege Armin Nassehi attestierte der Bundesrepublik schon während der Corona-Jahre eine "grundlegende Überforderung" im Umgang mit Krisen. Die Theologin und Prälatin der Evangelischen Kirche, Anne Gidion, konstatierte im April, die Gesellschaft sei "erschöpft" und "dünnhäutig" geworden.
Und als der Stadtrat der Stadt Burg im Jerichower Land im Juli einen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb, um eine Wende in der Asylpolitik zu fordern, erklärte ausgerechnet ein führender SPD-Vertreter dazu: Politik werde vor Ort "schlichtweg nicht mehr akzeptiert".
Vor allem bedient sich aber die Union in letzter Zeit dieser Analyse. Etwa wenn Fraktionsvize Jens Spahn der Ampel vorwirft, die Menschen mit einem angeblichen "Kulturkampf" zwischen Heizungsgesetz und Cannabis-Legalisierung zu überfordern.
Gefahr für Rechtsstaat
Götz Ulrich ist keiner, der sich aus Prinzip quer stellt. 2015 hielt er trotz Morddrohungen, Protesten und einem Brandanschlag an einer Asylunterkunft fest. In einem Streitgespräch in der "Zeit" hat er gerade jene CDU-Kommunalpolitiker vertreten, die auf keinen Fall mit der AfD zusammenarbeiten wollen. Und einige Tage nach dem Treffen mit tagesschau.de begleitet Ulrich als Schirmherr den ersten CSD des Burgenlandkreises.
Ulrich sagt, es gehe ihm bei seiner Kritik nicht um Parteipolitik, sondern um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Er nennt die AfD nicht beim Namen, sagt aber: Wenn Parteien an die Macht kämen, "die die Gesamtordnung infrage stellen", dann wäre auch alles gefährdet, was er als Kommunalpolitiker erreicht habe. In Ostdeutschland ist die in Teilen rechtsextreme Partei derzeit so stark wie nie zuvor.
Wie soll aber die Vertrauenskrise des Staates gelöst werden? Ulrich plädiert dafür, sich vorerst "auf das Allernötigste zu konzentrieren" - auf die Energiewende, den Fachkräftemangel, aber auch die Klimakrise. Gerade Letztere könne man nicht "hinten anstellen", findet Ulrich. Er selbst sorge gerade dafür, dass Gemeinden in seinem Kreis mehr vom Solar- und Windkraft-Ausbau profitieren können.
In Berlin müsse man aber eben schauen, dass anderswo Entlastung geschaffen wird und dass nicht noch weitere Verwaltungsstrukturen umgeworfen würden. Schließlich dürfe der Staat nicht dahin kommen, dass in Berlin etwas versprochen wird, "das wir vor Ort gar nicht administrieren können", sagt Ulrich. "Das wäre eine Gefahr für unseren Rechtsstaat."