Diskussion über Zeitenwende Menschen wollen "behalten, was sie haben"
In Lutherstadt Wittenberg streitet die Politik mit Bürgern über die Folgen des Ukraine-Krieges. Sachsen-Anhalts Landeschef Haseloff rügt die Ampel. Bundesentwicklungsministerin Schulze fordert eine neue Debatte über die Wehrpflicht.
"Nach Putins Überfall auf die Ukraine: Was tun wir? Sind wir bereit zu handeln?" Das fragt ein Videoeinspieler mit etwas Pathos. Die Münchner Sicherheitskonferenz tourt durch Deutschland und macht an diesem Mittwochabend Station in der Lutherstadt Wittenberg. Man will über die von Kanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende diskutieren. Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) vertreten die Politik.
Der Veranstaltungsort atmet schon mal Zeitenwende. Einst probte in der Exerzierhalle des Kaisers Kavallerie. Später quartierte sich die Rote Armee ein. Nach deren Abzug stand das Gemäuer am Stadtzentrum lange leer.
Sorgen vor Eskalation
Christoph Heusgen, Chef der Sicherheitskonferenz, erinnert an Luther und an die Schmiede-Aktion von Wittenberg, ein Meilenstein der DDR-Friedensbewegung. Es ist aber Marc Rath, Chefredakteur beider großer Regionalzeitungen in Sachsen-Anhalt, der anmerkt: Wenn im Intro behauptet werde, "die Westbindung gab uns Kraft", dann stimme das nur für einen Teil Deutschlands. Das funktioniert hier nicht, so Rath.
Tatsächlich werden Kraft und Zuversicht noch gesucht. Anne Gidion von der Evangelischen Kirche sagt, die Zeitenwende treffe auf eine "dünnhäutige" und "erschöpfte" Gesellschaft.
Moderatorin und MDR-Chefredakteurin Julia Krittian hat für den Abend Zahlen einer Befragung mitgebracht. 93 Prozent der Teilnehmenden aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sorgen sich vor einer Eskalation des Krieges. Die Zahlen sind nicht repräsentativ, aber ein Stimmungsbild.
Viele Publikumsfragen zielen auf Russland. Wie bringt man eine Atommacht zur Aufgabe? Heusgen setzt an: "Erinnern Sie sich an die Sowjets in Afghanistan." Nächste Frage: Was schützt uns vor russischen Hyperschallraketen? Dass die Ukraine nicht NATO-Mitglied ist. Deutschland werde nicht reingezogen, sagt Heusgen.
Der Ex-Merkel-Berater hat das Minsker Abkommen mit ausgehandelt. Das habe der "Kriegsverbrecher" Putin "in die Tonne getreten". Uneins ist Heusgen sich mit Reiner Haseloff darüber, wie viel Mitschuld die Ukraine am Scheitern des Abkommens trägt.
Soll man nun mit Waffenlieferungen weiter helfen oder nicht? Heusgen, der sich zuletzt in der Frage auch für Kampfjets offen zeigte, findet Ja, hält sich aber ansonsten zurück. Es wäre auch schwierig für ihn, sich hier durchzusetzen. "Man macht sich schuldig in beiden Fällen", sagt Kirchenvertreterin Gidion. Es gebe keine guten und schlechten Toten. Applaus.
Eine andere Emotionalität
Manche Fragen werden mit Wut vorgetragen, andere mit Verschwörungsnarrativen. Haseloff versucht eine Versachlichung. Die Menschen im Osten Deutschlands hätten "eine andere Emotionalität bei der Frage, wer Freund, wer Feind ist".
Und schon im Kalten Krieg sei die Gefahr eines Atomkrieges östlich der Mauer präsenter gewesen als im Westen. Westdeutsche seien unbekümmert in den Italien-Urlaub gefahren. "Wir wollten das auch haben und jetzt wollen wir das auch behalten", gibt Haseloff die Gefühlslage wieder.
Er selbst zieht andere Schlüsse, was die Lösung des Krieges betrifft: Wer selbst seine Freiheit erstritten habe, könne sich nicht hinstellen und der Ukraine sagen, "dass man sich dort aufopfern soll". Nur die Ukraine könne über Verhandlungen entscheiden.
Murren bei Manchen im Saal. Eine einhellige Meinung gibt es hier nicht. Viele andere klatschen, als Heusgen sagt, Russland habe sich schlicht als "unzuverlässig" erwiesen.
Schulze will Wehrpflicht-Debatte
Eher kurz kommen die aktuellen Auswirkungen auf das Leben in Deutschland, Inflation, Energiekrise. Dabei gibt es hier Reibungspunkte. Die Horror-Szenarien für den Winter seien nicht eingetreten, sagt Schulze. "Wir haben es geschafft, das Gas zu ersetzen."
Volle Gasspeicher habe man heute nur, weil Großverbraucher heruntergefahren wurden, erwidert Haseloff. Er meint Anlagen wie die Stickstoffwerke im Ort, die bis heute nur mit halber Kraft produzieren. Die Bundesregierung sollte sich stärker um die Industrie kümmern, "statt um Abbautermine für Heizungen". Er kritisiert, wie der Streit um das Gebäudeenergiegesetz von der Ampel ausgetragen wurde.
Jetzt darf Schulze kontern. Die Ampel sei "gezwungen, viel schneller und viel enger" zusammenarbeiten als einst Union und SPD. Jetzt müsse man Klimawandel und Energiekrise "parallel schaffen".
Was denn mit der ausgesetzten Wehrpflicht sei, will ein Rentner noch wissen. "Ich finde, wir müssen das nochmal diskutieren", sagt Bundesministerin Schulze. Ihre Begründung hat allerdings wenig mit der Zeitenwende zu tun: Als Parlamentsarmee müsse die Bundeswehr "die ganze Gesellschaft abbilden", so Schulze. Das tue sie aktuell nicht.
Es bleibt ein Abend, den man nur schwer in einen knackigen Videotrailer packen könnte. Der große, gemeinsame Ansatz, die Erzählung für die Zeitenwende: Sie werden noch gesucht.