Familien afghanischer Ortskräfte kommen 2021 in einer Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg an.
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Trotz Lage in Afghanistan Bundesregierung weist gefährdete Ortskräfte ab

Stand: 28.07.2023 06:00 Uhr

Unbürokratisch wollte die Bundesregierung mit afghanischen Ortskräften umgehen. Doch Recherchen vom NDR, WDR, SZ und Lighthouse zeigen: Immer wieder wird ihnen die Aufnahme in Deutschland verwehrt - obwohl sie als gefährdet gelten.

Zwei Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan und der militärischen Evakuierung durch die Bundeswehr warten noch immer Tausende gefährdete Afghanen auf ein Visum zur Einreise nach Deutschland.

Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) sowie dem Investigativbüro Lighthouse Reports zeigen nun, dass die Bundesregierung seither auch immer wieder afghanische Ortskräfte abwies, obwohl die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) zu der Einschätzung kam, dass es sich bei den Menschen um potenziell gefährdete Personen handelt.

Demnach erhielten auch immer wieder Personen eine Ablehnung, denen zuvor etwa attestiert worden war, "dass sie in ihrer Rolle als Vermittlung zwischen afghanischer Polizei und der Bevölkerung im Auftrag der GIZ deutlich wahrgenommen" wurden und somit "in exponierter Stellung" arbeiteten.

Die GIZ ist eine GmbH, die vollständig in Bundesbesitz steht und im Auftrag der Bundesregierung zahlreiche Entwicklungsprojekte weltweit durchführt. In Afghanistan war sie die größte deutsche Entwicklungsorganisation.

"In besonderem Maße als gefährdet einzustufen"

Ein Rechercheteam von WDR, NDR, SZ und Lighthouse hat beispielhaft 20 Fälle ehemaliger GIZ-Ortskräfte unabhängig überprüft und dazu unter anderem mit Betroffenen und Zeugen gesprochen sowie vertrauliche Regierungsdokumente einsehen können.

In einem Fall etwa kamen Prüfer der GIZ zu dem Schluss, dass die Situation eines Mannes, der eine Gefährdungsanzeige gestellt hatte, "in besonderem Maße als gefährdet einzustufen" sei. Der Mann hatte über fünf Jahre lang für die GIZ in herausgehobener Position in einer gefährlichen Provinz Afghanistans gearbeitet, in die deutsche Mitarbeiter aufgrund der Sicherheitslage selbst kaum reisen konnten. Dennoch wurde ihm eine Aufnahmezusage verweigert.

In einem anderen Fall notierten die Prüfer, es sei "davon auszugehen, dass die Taliban von ihrer Tätigkeit erfahren haben und die betroffene Person aufgrund dessen bedrohen". Dann wurde sie abgelehnt.

Auch im Fall einer weiteren Frau, die um Hilfe bat, hielten die Prüfer der GIZ fest, dass sie "aufgrund ihres Einsatzes für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte deutlich exponiert" und ihre Position "in besonderem Maße als gefährdet einzustufen" sei. Sie alle erhielten im Anschluss eine Ablehnung durch die Bundesregierung. Ähnliche Fälle lassen sich den Recherchen zufolge immer wieder finden.

Hohe Ablehnungsquote im Polizeiprojekt

Häufig erfolgen Ablehnungen im Bereich des sogenannten Police Cooperation Project (PCP) der GIZ, einem ehemaligen Projekt zur Polizeiausbildung in Afghanistan, in dem zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Taliban noch mehr als 1.500 Menschen im Auftrag der GIZ tätig waren.

In einem internen Dokument der GIZ heißt es zu dieser Gruppe: "Mitarbeiter*innen des PCP gelten als besonders gefährdet durch ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit und Zusammenarbeit mit der Polizei." Bei dem Projekt wurden afghanische Polizisten ausgebildet, sollten Lesen und Schreiben lernen. Allerdings verfügten die Mitarbeiter lediglich über sogenannte Werkverträge mit der GIZ.

Zwar teilt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit, für ehemalige Mitarbeiter im PCP-Projekt "gelten dieselben Regelungen wie für andere Ortskräfte und Werkvertragsnehmende". Aus vertraulichen Regierungsdokumenten geht aber hervor, dass Beamte bei der Prüfung von Werkvertragsnehmern eine "restriktive Handhabung" anwenden sollen. In der Folge wurde von mehr als 1300 PCP-Mitarbeitern, die eine Gefährdung angezeigt haben, lediglich 56 eine Aufnahmezusage ausgesprochen. Mehr als 1000 wurden abgelehnt.

Grund für die Ablehnungen ist häufig die Anforderung, wonach die Gefährdung früherer Ortskräfte sich von der allgemeinen Bedrohungslage in Afghanistan deutlich abheben muss und sich "aus dem Vertragsverhältnis ergeben muss", wie es heißt. In der Praxis ist das oft schwer zu belegen. Auch berichten Ortskräfte in Afghanistan sowie deutsche Prüfer von einem regen Schwarzmarkt, der inzwischen für gefälschte Dokumente und Drohschreiben entstanden sei, was die Prüfung der Anträge erschwere.

Mehrfachgefährdung kann zur Ablehnung führen

Die Recherchen zeigen auch, dass im Rahmen des Ortskräfteverfahrens die Mehrfachgefährdung von Personen eine Rolle für die Ablehnung durch deutsche Behörden spielen kann. "Wenn eine Person auch aus anderen Gründen in Afghanistan gefährdet ist, bedeutet dies im Ortskräfteverfahren häufig eine Absage, da sich in diesem Verfahren die Gefährdung direkt aus der Tätigkeit ableiten muss, da sonst kein direkter Zurechnungszusammenhang besteht", sagt ein Regierungsmitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will.

So wurden offenbar auch westlich orientierte Frauen im Ortskräfteverfahren abgelehnt, die für die GIZ tätig gewesen sind - aber auch der in Afghanistan verfolgten Minderheit der Hazara angehören. In mehreren Fällen sollen ihre Familienmitglieder bereits gefoltert worden sein.

Das Innenministerium entgegnet, eine Mehrfachgefährdung würde weder positiv noch negativ ausgelegt. Das Entwicklungsministerium verweist auf eine weitere Prüfung solcher Fälle im Bundesaufnahmeprogramm.

Koalitionsvertrag versprach "unbürokratische Verfahren"

Die Bundesregierung, die in ihrem Koalitionsvertrag 2021 versprochen hatte, das Ortskräfteverfahren so zu reformieren, "dass gefährdete Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen", verweist unterdessen auf eine hohe Zahl an Afghanen, die seit 2021 bereits nach Deutschland eingereist seien.

Demnach sind seit August 2021 bereits mehr als 30.000 Menschen aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, darunter mehr als 4.000 Ortskräfte sowie mehr als 2.500 gefährdete Personen und deren Familienangehörige. Das BMZ teilt mit, dass es von 6.600 Gefährdungsanzeigen die Mehrheit, rund 3.400 Fälle, positiv beschieden habe. 2.500 wurden abgelehnt. 700 Fälle befänden sich derzeit noch in der Prüfung.

Ministerium: "Die möglichen Spielräume genutzt"

Laut Ministerium besteht seine "dringlichste Aufgabe darin, den potentiell am stärksten gefährdeten Afghaninnen und Afghanen eine Einreise nach Deutschland zu ermöglichen". Dabei handele es sich neben besonders gefährdeten Ortskräften etwa auch um Menschenrechtlerinnen, Journalisten und frühere Staatsanwälte. Auch habe sich das Ministerium dafür eingesetzt, "dass Personen mit Aufnahmezusage auch ohne gültigen Reisepass über Pakistan nach Deutschland einreisen konnten".

Zu den einzelnen Fällen wollte sich das Ministerium nicht äußern. Ein Sprecher teilte aber mit, man habe "im Rahmen der Gesetzesbindung der Verwaltung die (...) möglichen Spielräume zu einer möglichst weitgehenden Anwendung härtefallbedingter Ausnahmeregelungen genutzt." Außerdem argumentiert ein Sprecher, es gehe nicht darum, sich die Darlegungen der Ortskräfte sowie der GIZ zu eigen zu machen. Vielmehr müsse jeder Fall unabhängig geprüft werden.

Im Hinblick auf die hohe Ablehnungsquote beim PCP-Programm teilt das Ministerium mit, "nur wenige der ehemaligen Werkvertragsnehmer*innen" hätten eine Gefährdung plausibel darstellen können, "die sich aus ihrer ehemaligen Tätigkeit für das PCP ergibt und die über das allgemeine Gefährdungsniveau in Afghanistan hinausgeht."

Im Hinblick auf den Umgang mit mehrfachgefährdeten Personen, die im Rahmen des Ortskräfteverfahrens abgelehnt wurden, teilte das BMZ mit, solche Fälle habe das Ministerium regelmäßig ans Auswärtige Amt zur Prüfung übergeben, und verweist auf das dortige Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghanen.

Bundesaufnahmeprogramm marginal

Das Bundesaufnahmeprogramm, ein zentrales Instrument, mit dem die Bundesregierung schnelle Einreisen versprochen hatte, liegt allerdings weiterhin de facto nahezu auf Eis. Das Programm, das nie wirklich angelaufen war und das auf die Mitarbeit ziviler Organisationen setzt, war im März wegen Sicherheitsbedenken des Bundesinnenministeriums zunächst ausgesetzt und Ende Juni laut Regierungssprechern wieder formal in Gang gesetzt worden.

Ein Außenamtssprecher hatte angekündigt, das Programm solle nunmehr "schrittweise" ausgebaut werden bis das ursprüngliche Ziel, monatlich 1.000 Menschen aufzunehmen, erreicht sei. Die Recherchen zeigen aber, dass diese Zielsetzung wegen mangelnder Kapazitäten auf absehbare Zeit nicht zu erreichen ist. Demnach wurde seither im sogenannten Bundesaufnahmeprogramm noch kein einziges neues Einreisevisum erteilt, im Ortskräfteverfahren waren es nicht einmal zehn. Insgesamt wurden seit Ende März lediglich 70 Visa an gefährdete Afghanen erteilt.

Anmerkung: Der Text wurde um Angaben zu der aktuellen Zahl der Einreisevisa für Ortskräfte ergänzt.

Palina Milling, WDR, tagesschau, 28.07.2023 06:32 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 28. Juli 2023 um 07:48 Uhr.