Israelische Soldaten trainieren auf den Golan-Höhen
interview

Israel nach dem Raketenangriff Bereit zur Eskalation - aber auch zum Krieg?

Stand: 29.07.2024 16:52 Uhr

Der Nahost-Experte Steinberg erwartet, dass Israel hart auf den Raketenangriff aus dem Libanon reagieren wird. Er bezweifelt aber, dass Israel zu einer weiteren Bodenoffensive in der Lage ist. Auch die Hisbollah habe daran kein Interesse. Aber ist die Eskalation kontrollierbar?

tagesschau.de: Welche Optionen hat Israel, auf den Raketenangriff aus dem Libanon zu reagieren?

Guido Steinberg: Israel hat seit dem 8. Oktober auf jeden größeren Beschuss der Hisbollah reagiert. Entsprechend dieser Logik gehe ich davon aus, dass die Israelis zumindest etwas härter als in den vergangenen Monaten reagieren werden. Eine Möglichkeit wäre, das Hauptquartier der Hisbollah in Süd-Beirut anzugreifen. Das wäre allerdings mit vielen zivilen Opfern verbunden.

Eine zweite Möglichkeit wäre, die Hisbollah in ihrem Hinterland zu treffen, also besonders im Nordosten des Landes, im nördlichen Bekaatal. Damit würde Israel das Signal senden, dass es bereit ist, auf eine Eskalation mit einer weiteren Eskalation zu reagieren, ohne an einem größeren Krieg interessiert zu sein. Ob das dann auch gelingt, ist eine andere Frage.

Eine seit langem geführte Debatte

tagesschau.de: Wenn es nicht gelingt, würde für Israel zusätzlich zum Gaza-Krieg eine zweite Front entstehen. Kann es daran ein Interesse haben?

Steinberg: Der Angriff der Hamas am 7. Oktober war ein Angriff, der in dieser Form schon länger erwartet wurde - aber von der Hisbollah, mit einem Überschreiten der Grenzanlagen, Angriffen auf Dörfer oder Kibbuzim, mit Geiselnahmen. In Israel wird deshalb seit Jahren diskutiert, ob es nicht notwendig ist, selbst die Initiative zu ergreifen und die Hisbollah in einem Krieg so zu schwächen, dass sie zu einem solchen Angriff nicht in der Lage ist.

Diese Debatte hat sich seit dem 8. Oktober verschärft. Es gibt wichtige Stimmen in der israelischen Politik und im Militär, die einen solchen Präventivkrieg fordern. Es war möglicherweise nur der Widerstand der USA, der bisher eine solche größere Aktion verhindert hat. Ich gehe davon aus, dass diese Debatte derzeit in der israelischen Regierung erneut geführt wird.

Guido Steinberg
Zur Person

Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er forscht vor allem zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.

"Ein Feind, der wesentlich stärker als die Hamas ist"

tagesschau.de: Kann Israel sich das nach fast einem Dreivierteljahr Krieg im Gazastreifen militärisch leisten?

Steinberg: Die israelische Regierung ist offensichtlich der Meinung, dass ein solcher Krieg geführt werden kann. Was das israelische Militär ohne Weiteres schaffen kann, ist eine intensive Luftkampagne gegen Ziele der Hisbollah am Boden. Wohl wissend, dass damit das Problem nicht beseitigt würde. Die Hisbollah wäre dann weiterhin in der Lage, Drohnen, Marschflugkörper und Raketen in Richtung Israel zu schicken.

Ich habe Zweifel, dass für eine größer angelegte Bodenoffensive die nötige Zahl der Soldaten vorhanden und die nötige Munition da ist. Denn auf der Gegenseite steht ein Feind, der wesentlich stärker ist als die Hamas im Gazastreifen.

tagesschau.de: Die Hisbollah hat in den vergangenen Monaten darauf gesetzt, Israel im Norden fortwährend zu stressen, immer wieder auszutesten, wie weit man gehen kann. Folgt der Angriff vom Wochenende dieser Logik? Oder kann es auch sein, dass es sich um einen fehlgeleiteten Angriff handelte?

Steinberg: Ich kann mir vorstellen, dass die Hisbollah dieses Ziel tatsächlich nicht treffen wollte und dass es sich um einen fehlgeleiteten Angriff handelte. Nicht nur, weil die Opfer eindeutig spielende Kinder und Jugendliche waren, sondern auch, weil es sich um Drusen gehandelt hat. Zugleich ist mir nicht klar, welches Ziel überhaupt getroffen werden sollte. Madschdal Schams ist ein etwas größerer Ort, der deutlich identifizierbar und unterscheidbar von den militärischen Zielen in der Umgebung ist. Die Hisbollah hat oft genug gezeigt, dass sie in der Lage ist, Ziele anzuvisieren und zu treffen. Was da genau passiert ist, werden wir vielleicht nie erfahren.

Eine mögliche Erklärung ist, dass der Angriff vielleicht gar nicht von der Hisbollah ausging. Im Südlibanon operieren auch andere Gruppierungen, wie zum Beispiel die Hamas. Vielleicht war also eine Gruppe am Werk, die weniger professionell mit ihren Raketen umgeht als die Hisbollah.

"Hisbollah und Iran wollen nicht den großen Krieg"

tagesschau.de: Hinter der Hisbollah steht der Iran, der zuletzt wenig Neigung gezeigt hat, sich gänzlich in den Krieg in der Region hineinziehen zu lassen. Hat sich daran etwas geändert?

Steinberg: Ich gehe davon aus, dass die Haltung der Hisbollah die Haltung Irans wiedergibt. Beide Seiten sind daran interessiert, Solidarität mit der Hamas zu zeigen, indem die Hisbollah den Norden Israels beschießt. Iran und Hisbollah möchten gerne austesten, was die Israelis können, wie sie reagieren. Sie möchten die Israelis provozieren und demütigen, aber sie möchten nicht den ganz großen Krieg. Iran will vor allem nicht, dass die Ereignisse in Gaza dazu führen, dass sein ungleich wichtigerer Verbündeter, die Hisbollah, im Libanon stark geschwächt wird.

tagesschau.de: Sehen Sie noch eine Chance dafür, eine Eskalation abzuwenden?

Steinberg: Wenn Sie sich die Ereignisse der vergangenen neun Monate anschauen, dann ist eine Eskalation unter anderem deshalb ausgeblieben, weil die USA dafür gesorgt haben - auf verschiedene Art und Weise. Die USA haben versucht, die Israelis von einem großen Angriff auf die Hisbollah abzuhalten und haben gleichzeitig indirekt mit der Hisbollah verhandelt. Dabei haben sie versucht, die Hisbollah zu überzeugen, sich von der Grenze zurückzuziehen.

Das wäre aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit, eine Konfrontation zu verhindern. Wenn die Hisbollah sich direkt an der israelischen Grenze befindet, wird eine Konfrontation zwischen der Organisation und Israel längerfristig nicht zu verhindern sein.

"Türkei will Einfluss nicht verlieren"

tagesschau.de: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nun mit einem Eingreifen gedroht. Wie ernst ist diese Drohung zu nehmen und was könnte sie bedeuten?

Steinberg: Das muss man von den Ereignissen an der Grenze Israels und des Libanon trennen. Die Türkei ist kein Verbündeter der Hisbollah und kein Verbündeter Irans. Sie hat aber in den vergangenen zehn bis 15 Jahren versucht, Islamisten in der gesamten Region zu unterstützen, besonders die Islamisten der Muslimbruderschaft. Dazu gehört die Hamas. Erdogan und seine Partei kommen aus der Tradition der Muslimbruderschaft, und die schon seit dem 7. Oktober sehr aggressiven Äußerungen des türkischen Präsidenten zu diesem Thema lassen die letzten Äußerungen nicht ganz so überraschend erscheinen.

Trotzdem kommt damit ein neues Element in den Konflikt, weil die Türkei eine so wichtige und große Militärmacht im östlichen Mittelmeer ist. Sollte sich die Türkei entscheiden, Gegner Israels noch direkter zu unterstützen, als das im Moment der Fall ist und vielleicht sogar die eigene Marine einzusetzen, dann haben wir da einen ganz neuen Konflikt. Ich glaube, dass der unmittelbare Hintergrund der Ereignisse ist, dass die Türkei ihren Einfluss auf die Hamas nicht vollkommen an Iran verlieren will.

tagesschau.de: Wie könnte so ein Eingreifen aussehen?

Steinberg: Wir sehen ohnehin schon seit Jahren eine großzügige Unterstützung der Hamas durch die Türkei. Die Büros der Hamas in der Türkei sind ungeheuer wichtig für die Organisation, vor allem für ihre Strukturen im Libanon. Ich kann mir zum einen vorstellen, dass diese Unterstützung ausgeweitet wird, vielleicht durch Waffenlieferungen an die Hamas oder zumindest finanzielle Unterstützung für Waffenkäufe. Eine direktere Möglichkeit wäre, dass die Türkei - wie schon einmal in der Vergangenheit - Hilfskonvois schickt.

2010 hat die israelische Marine das wichtigste Schiff eines Hilfskonvois einer islamistischen Organisation aus der Türkei gestürmt und mehrere Passagiere getötet. Stellen Sie sich vor, ein solcher Hilfskonvoi würde nun von der türkischen Marine eskortiert. Solche und ähnliche militärisch unterfütterte Provokationen Israels durch die Türkei halte ich für eine Möglichkeit. Wichtig ist aber vor allem, dass auch die Türkei keine direkte Auseinandersetzung mit Israel will.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 29. Juli 2024 um 17:00 Uhr.