Pläne für neue AKW Schwedens Atomwende
Auch Schweden wollte aus der Atomenergie aussteigen. Die neue Regierung will die Kerntechnik nun sogar ausbauen - die Stromproduktion soll fossilfrei sein. Das Land wirbt um Investoren für neue AKW.
Das nukleare Herz Schwedens schlägt gut zwei Stunden nördlich von Stockholm in der Kommune Östhammer. An der Küste der Ostsee liegt hier zwischen ausgedehnten Kiefern- und Birkenwäldern das Atomkraftwerk Forsmark - das größte des Landes. Der Ort hat Geschichte. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts wurde in dem kleinen Industrieort Eisenerz verarbeitet. Der Stahl aus Forsmark war für seine hohe Qualität bekannt. Zeitweise war eine Tonne Eisen aus Forsmark mehr wert als eine Tonne Gold.
Als Schwedens Industrie Ende der 1960er-Jahre immer mehr Energie benötigte, begann man mit den ersten Planungen für ein Kernkraftwerk in Forsmark. Damals wurde groß gedacht. Zunächst plante man für ganze acht Reaktorblöcke. In dieser Dimension hätte Forsmark am Ende das ganze Land mit Strom versorgen können. Gebaut wurden am Ende aber nur drei Blöcke. Der erste ging 1980 ans Netz, der dritte fünf Jahre später. In Forsmark entsteht außerdem ganz in der Nähe des AKW Schwedens erstes atomares Endlager.
"Ans Abschalten denkt niemand"
An einem sonnigen Wintertag führt Joséf Nylén über das Kraftwerksgelände. Vom Wasserturm aus hat man einen weiten Blick hinaus auf die Ostsee und auf die drei Reaktorblöcke. Kein Rauch steigt auf. Kein Lärm ist zu hören. Und trotzdem wird hier rund um die Uhr Strom produziert.
Das Kraftwerk hat eine Leistung von mehr als 3000 Megawatt. "Ans Abschalten denkt hier niemand", sagt Nylén. "Nach den aktuellen Planungen werden wir bis weit in die 2040er-Jahre hinein Strom produzieren." Aber denkbar sei durchaus, dass selbst dann noch nicht Schluss ist. Technisch sei ein Weiterbetrieb bis 2060 durchaus möglich, sagt Nylén. Entscheiden müsse das der Betreiber Vattenfall und die Regierung. Am Ende könnte das Kraftwerk rund 80 Jahre Strom produzieren.
Dabei ist Forsmark durchaus ein Name, der auch mit den Risiken der Kernkraft verbunden ist. 2006 gab es einen ernsten Störfall im Block eins des Kraftwerks. Er drohte nach einem Stromausfall außer Kontrolle zu geraten. Nur dem beherzten Eingreifen eines besonnenen Mitarbeiters ist es zu verdanken, dass am Ende noch rechtzeitig zwei Dieselgeneratoren ansprangen und der Reaktor wieder unter Kontrolle gebracht werden konnte.
Radioaktive Wolke von Tschernobyl bis Forsmark
Erst später wurde deutlich: der Störfall vom Sommer 2006 hätte sich zu einem Super-Gau entwickeln können - ähnlich wie 1986 im damaligen sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl. An den April 1986 erinnern sich auch Agneta und Kaj Enhorn noch. Die beiden Rentner wohnen in einem kleinen ochsenblutrot gestrichenen Holzhaus nur gut einen Kilometer vom AKW in Forsmark entfernt. "Wir hatten damals schon den Evakuierungsbefehl bekommen", erzählt Kaj Enhorn.
Denn in Forsmark wurde die radioaktive Wolke aus Tschernobyl zuerst gemessen. Man ging damals zunächst von einem Störfall im eigenen Kraftwerk aus. Deshalb die Sicherheitsmaßnahmen. Aber schon bald merkte man: die Radioaktivität außerhalb des Kraftwerks war höher als im Innern. Da schlugen die Schweden Alarm. Erst Wochen später war das ganze Ausmaß der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bekannt.
Kaj und Agneta Enhorn haben sich an die Atomkraft gewöhnt. So wie die meisten Schweden. In ihrer Küche steht ein kleines Funkradio. Mit dem haben sie immer Kontakt ins benachbarte Kraftwerk. Selbst bei Stromausfall kann sich die Kraftwerksleitung direkt bei ihnen melden. Von der Regionalverwaltung bekommen sie regelmäßig Jodtabletten. "Das ist wie bei einem Autounfall", erklärt Agenta Enhorn. "Wenn etwas passiert, muss man eben wissen, was zu tun ist." Fenster und Türen schließen. Jodtabletten einnehmen und abwarten, was die Strahlenschutzbehörde sagt. Erste Hilfe für AKW-Unfälle. So einfach sei das, meint die Rentnerin. Angst mache ihr die Atomkraft nicht.
Deutscher Staat indirekt AKW-Betreiber
Aktuell gibt es in Schweden insgesamt sechs Reaktorblöcke an drei Standorten. Neben dem größten in Forsmark mit seinen drei Reaktoren gibt es zwei weitere in Ringhals südlich von Göteborg und einen in Oscarshamn an der Ostküste des Landes. Oscarshamn ist übrigens über eine Tochterfirma mehrheitlich im Besitz der deutschen Uniper AG. Ein Umstand, der dazu führt, dass nach der Verstaatlichung von Uniper nun die die deutsche Bundesregierung indirekt zum Hauptbetreiber eines Kernkraftwerks in Schweden geworden. Auch das haben die Verwerfungen auf dem Energiemarkt nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine mit sich gebracht.
Neben Uniper ist der schwedische Staatskonzern Vattenfall der große Akteur auf dem Energiemarkt Schwedens. Er betreibt auch mehrheitlich das AKW in Forsmark. "Fossilfrei in einer Generation", diesen Slogan von Vattenfall hat mittlerweile auch die schwedische Regierung übernommen. Und die Kernkraft zählt auch in Schweden als fossilfreie Energie. Derzeit kommen rund 30 Prozent des Stroms aus den Kernreaktoren. Den Rest liefern Wasser- und Windkraft. Fossile Energieträger wie Gas und Kohle spielen in Schweden schon heute praktisch keine Rolle mehr.
"Auf Shopping-Tour für neue Atomkraftwerke"
Aber der Anteil der Kernkraft am Strommix soll bis 2030 auf 50 Prozent steigen. Das zumindest sehen die Pläne der neuen schwedischen Regierung vor, die seit vergangenem Herbst im Amt ist. Sie hat in Schweden eine Atomwende eingeleitet. Statt Weiterbetrieb will sie nun die Nukleartechnik ausbauen.
Im Interview mit Plusminus erklärt Ebba Busch, Energieministerin und stellvertretende Regierungschefin: "Schweden ist auf Shopping-Tour für neue Atomkraftwerke." Der Grund: die Schicksalsfrage Klimaschutz. Schweden hat seinen großen CO2-Ausstoß in der Schwerindustrie und im Transportsektor. "Wenn wir das alles durch Strom ersetzen wollen, dann ist für uns klar: das geht nicht allein mit Erneuerbaren Energien. Da brauchen wir die Kernenergie", sagt Busch. Die schwedische Regierung rechnet damit, dass sich der Stromverbrauch des Landes bis 2030 praktisch verdoppeln wird.
Schwedens Vize-Regierungschefin Ebba Busch bei einem Besuch des Kernkraftwerks Forsmark.
Dabei war die Frage der friedlichen Nutzung der Kernenergie auch in Schweden nicht unumstritten. Schon 1980 - nur gut ein Jahr nach dem Reaktorunfall im US-amerikanischen Harrisburg - stimmte eine Mehrheit der Schweden in einer Volksabstimmung für einen langsamen Ausstieg aus der Kernkraft. Bis spätestens 2010 sollte Schluss sein. Selbst die Atomforschung wurde eingeschränkt, die Zahl der Standorte auf am Ende drei und die Zahl der Reaktoren auf zehn beschränkt.
All das will die Regierung nun kippen. Busch formuliert es ganz einfach: Jeder, der in Schweden neue Kraftwerke bauen will, sei herzlich willkommen. Der staatliche Vattenfall-Konzern hat bereits eine Machbarkeitsstudie für den Bau von sogenannten Modularen Reaktoren (SMR) in Auftrag gegeben. Und auch große Konzerne wie der US-Kraftwerksbauer GE Hitachi haben Schweden im Blick.
Start-up plant modulare Kraftwerke
Und an der nuklearen Zukunft Schwedens wird schon jetzt gearbeitet. Und zwar in einer kleinen Seitenstraße im Zentrum von Göteborg. Hier hat Kärnfull Next seinen Sitz - ein junges Start-up. Die beiden Gründer John Ahlberg und Christian Sjölander setzen schon seit einigen Jahren auf Atomstrom. Zunächst verkauften sie die nukleare Energie an private Endkundinnen und Endkunden. Nun setzen sie auf die Projektentwicklung für kleine modulare Kernkraftwerke. Diese sind deutlich kleiner als herkömmliche Kernkraftwerke, und sie lassen sich zu großen Teilen vorproduzieren und erst vor Ort zusammenbauen.
Ahlgren und Sjölander sind überzeugt: die neue Technologie bringe viele Vorteile mit sich. Die Reaktoren lassen sich dort bauen, wo die Energie benötigt wird - also in der Nähe von großen Industriestandorten oder großen Kommunen. "So ein SMR-Reaktor produziert nicht nur 300 Megawatt Strom, sondern liefert gleichzeitig auch noch 850 Megawatt thermische Energie. Damit kann man zum Beispiel Wasserstoff oder E-Fuels produzieren", erklärt Ahlgren. Mit mehreren Interessenten sei man schon im Gespräch.
Dabei ist die neue SMR-Technologie insgesamt noch Zukunftsmusik - zumindest im kommerziellen Betrieb. GE Hitachi will einen ersten Reaktor in Kanada frühestens 2028 an den Start bringen. Aber danach soll schon Europa folgen. Das Göteborger Start-up geht davon aus, dass sie die ersten SMR-Reaktoren in Schweden Anfang der 2030er-Jahre bauen.
Angewiesen auf günstigen Strom
Steht die Atomkraft in Schweden vor einem Comeback, gar einer strahlenden Zukunft? Noch will sich da niemand festlegen. Aber die Richtung ist klar. Am Ende werden vor allem die Kosten entscheiden. Schweden braucht günstigen Strom. Er ist seit Jahrzehnten die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes.
Und die Unterstützung in der Bevölkerung für die weitere Nutzung der Kernkraft steigt. Dazu hat nicht nur die Klimakrise, sondern auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die steigenden Energiepreise beigetragen. Waren vor fünf Jahren lediglich 30 Prozent der Schwedinnen und Schweden für einen möglichen Ausbau der Kernkraft, so liegt der Anteil nach Zahlen des Meinungsforschungsinstitut Novos vom vergangenen Dezember mittlerweile bei 60 Prozent. Tendenz steigend.
Kaj und Agneta Enhorn in ihrem kleinen Holzhaus in der Nähe von Forsmark machen da keine Ausnahmen. Sie stehen sinnbildlich für den schwedischen Pragmatismus in Sachen Atomenergie. "Natürlich wäre es auch mir lieber, wenn wir unseren Strom ausschließlich von Solarzellen und Windrädern bekommen würden", sagt Agneta Enhorn an ihrem Küchentisch. "Aber das haben wir nun einmal nicht. Man sollte das nutzen, was man hat", sagt die Rentnerin. Und fügt hinzu: "Die im Kraftwerk passen doch genau auf. Das wird schon gut gehen - auch bei einem Ausbau der Kernkraft."
In einer früheren Version dieses Artikels wurde der Name des Unternehmen Kärnfull Next fälschlicherweise als Nordic Next Gen Nuclear angegeben. Auch den Namen des Gründers John Ahlberg hatten wir nicht korrekt geschrieben.
Wir haben beide Fehler korrigiert.