150 Jahre Flächentarifvertrag Jubiläum für eine Krisenbranche
Der Flächentarifvertrag, ein Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft, wird 150 Jahre alt. Doch ausgerechnet der Branche, die ihn erstritten hat, geht es so schlecht wie wohl noch nie: der Druckindustrie.
Es muss ein stolzer Tag gewesen sein für die Drucker in Deutschland, dieser 9. Mai 1873. Deutschland bekam seinen ersten Flächentarifvertrag - und ein Stück sozialen Frieden. Für die Buchdrucker, die kurz zuvor die erste Gewerkschaft im Land gegründet hatten, ein großer Sieg. Vorausgegangen waren Streiks, Aussperrungen, Entlassungen und Inhaftierungen.
Natürlich wird so ein Jubiläum entsprechend gewürdigt. Die Hans-Böckler-Stiftung lädt zum Festakt mit Arbeitsminister Hubertus Heil, ver.di-Chef Frank Werneke und Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Arbeitgeberverbände. In der Berliner Turbinenhalle wird gefeiert: einem ehemaligen Industriestandort.
Ehemalige Vorzeigebranche Druckindustrie
"Ehemalig" ist ein Wort, das auch recht gut auf die Tarifbindung in der Branche passt, in welcher der Flächentarifvertrag "erfunden" wurde. Denn in den vergangenen Jahren hat die Druckerindustrie eine regelrechte "Tarifflucht" erlebt.
Bertram Strausberg ist Geschäftsführer der Axel Springer Print Management GmbH. Das Unternehmen druckt die "Bild" und andere Zeitungen aus dem Hause Springer. Drei Druckereien betreibt das Unternehmen in Deutschland - noch. Stausberg steht zwar auf der Arbeitgeberseite, ist aber eindeutig für Tarifverträge. "Prinzipiell finde ich Tarifverträge eine sehr gute Sache. Sie sorgen dafür, dass alle Marktteilnehmer die gleichen Wettbewerbsbedingungen haben - wenn alle mitmachen. Das ist sehr sinnvoll", sagt er.
Doch es machen längst nicht mehr alle mit. Stausberg malt ein eher düsteres Bild der Branche, in der er seit 1996 arbeitet: Immer weniger Menschen lesen Zeitungen, Magazine oder Kataloge auf Papier. Der zu verteilende Kuchen an Aufträgen wird jedes Jahr kleiner. "In einem rückläufigen Markt, wie wir ihn in der Druckindustrie in vielen Segmenten erleben, herrscht enormer Wettbewerbs- und damit auch Kostendruck. Das ist unter anderem ein Grund für die Flucht sehr vieler Druckereien aus dem Tarifvertrag in den vergangenen Jahren."
"Wie eine 150 Jahre alte Kommode"
Erschwerend dürfte hinzukommen, dass viele Regelungen des Manteltarifvertrags in der Branche seit Jahren nicht modernisiert wurden. Das bemängelt der Betriebsratsvorsitzende des Druckhauses Spandau, Sven Rieck. Die Druckerei gehört zur Springer-Gruppe. Rieck ist einer derjenigen, die noch nach Tarifvertrag bezahlt werden. Einerseits ist er froh darüber, doch auch er ist nicht besonders zuversichtlich: "150 Jahre Tarifvertrag sind total gut. Aber das ist wie mit einer 150 Jahre alten Kommode. Die könnte man eigentlich auch mal wieder aufpolieren."
Das Regelwerk sei in die Jahre gekommen. Zwar gebe es teils sehr ordentliche Zuschläge für Nacht- und Feiertagsarbeit, an anderen Stellen aber klafften riesige Lücken. Rieck, Jahrgang 1972, beklagt: "Ich arbeite seit meinem siebzehnten Lebensjahr Schicht. Altersteilzeitregelungen, um gut in die Rente zu kommen, sind im Manteltarifvertrag aber beispielsweise nicht geregelt. Das wünschen sich aber ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen."
Viele Regeln seit Jahrzehnten unverändert
Auch sein Geschäftsführer Stausberg sagt: "Der Tarifvertrag der Druckindustrie ist teilweise nicht mehr zeitgemäß." Damit meint er vor allem Vorschriften, die festlegen, wie viele Mitarbeiter an einer Druckmaschine zu arbeiten haben. Die Regelungen seien seit Jahrzehnten unverändert "Insbesondere für moderne Druckmaschinen mit hohem Automatisierungsgrad grenzen diese sogenannten Besetzungsregeln an Vorschriften, einen Heizer auf einer E-Lok zu beschäftigen", so Stausberg.
Seit Jahren gibt es immer wieder Versuche, den Manteltarifvertrag für die Druckbranche zu modernisieren. Doch bislang sind alle Anläufe gescheitert, der vorerst letzte erst vor wenigen Wochen. Das Regelwerk droht, zum Relikt zu verkommen. Betriebsrat Rieck sagt trocken: "Ob ich bei einem Tarifvertrag, den viele Arbeitgeber kündigen, es noch hinbekomme, grundlegende Änderungen durchzusetzen, wage ich zu bezweifeln."
Weiter sinkende Auslastung erwartet
Die Frage wäre auch, wie viele Arbeitnehmer davon in der Zukunft noch profitieren dürften. Eine Branche im Niedergang braucht kaum noch Nachwuchs. Der Job sei zwar insgesamt dank der Automatisierung leichter geworden, doch Rieck sagt auch: "Das Durchschnittsalter in unseren drei Druckereien ist sehr hoch, man spricht da schon fast vom betreuten Drucken." 150 Jahre nach dem hart erkämpften Erfolg der Arbeitnehmer scheint mehr als fraglich, ob das Regelwerk die nächsten anderthalb Jahrhunderte auch überstehen wird.
"Die Auslastung der Druckereien dürfte in den kommenden Jahren um rund fünf bis zehn Prozent pro Jahr fallen", prognostiziert Geschäftsführer Stausberg. Das hat auch Folgen für sein Unternehmen. In eine der drei Druckereien müssten aus technischen Gründen in naher Zukunft millionenschwere Investitionen gesteckt werden. Angesichts sinkender Auflagenzahlen ergibt das wenig Sinn. Die Folge: die Druckerei Ahrensburg soll in der zweiten Jahreshälfte 2024 schließen. Die Aufträge werden dann die verbleibenden zwei Standorte übernehmen.