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35 Jahre deutsche Einheit Weshalb junge Menschen Ostdeutschland verlassen

Stand: 03.10.2024 13:04 Uhr

Die Bevölkerung im Osten ist im Schnitt älter - junge Menschen zieht es weiter in den Westen. Experten erwarten, dass dieser Trend anhält und es damit immer schwerer wird, Arbeitskräfte zu finden. Aber auch im Osten gibt es Boom-Regionen.

Die Abwanderung junger Leute aus den ostdeutschen Bundesländern hält an: Im vergangenen Jahr sind erneut mehr 18- bis 29-Jährige vom Osten in den Westen gezogen als umgekehrt. Netto sind 2023 7.100 junge Menschen aus ostdeutschen Bundesländern in westdeutsche gegangen. Das geht aus aktuellen Daten des Statistische Bundesamt (Destatis) hervor. Berlin wurde bei den Berechnungen jeweils nicht berücksichtigt.

Über alle Altersgruppen hinweg sind die Wanderbewegungen zwischen Ost und West in den vergangenen zehn Jahren deutlich ausgeglichener gewesen. Von 2017 an zogen sogar mehr Menschen von West nach Ost als andersrum. Erst im vergangenen Jahr drehte sich die Entwicklung laut den Daten - wenn auch nur leicht. 2023 wanderten über alle Altersgruppen betrachtet 3.000 Personen vom Osten in den Westen ab.

"Abstimmung mit den Füßen"

Dass es vor allem die jungen Menschen sind, die aus Ostdeutschland wegziehen, lässt sich laut den Destatis-Forschern seit Jahren beobachten: Seit 1991 bestehe ein kontinuierlicher Wanderungsverlust Ostdeutschlands gegenüber dem Westen in dieser Altersgruppe, der sich auch 2023 fortgesetzt habe. Seit 1991 sind insgesamt 727.000 zu dem Zeitpunkt 18- bis 29-Jährige aus den ostdeutschen Ländern in den Westen.

Experten wie Tim Leibert vom Leibniz-Institut für Länderkunde sehen diese Entwicklung kritisch: "Abwanderung ist eigentlich immer eine Abstimmung mit den Füßen über die wahrgenommene Zukunftsfähigkeit", so der Forscher gegenüber dem mdr. "Offensichtlich sind viele junge Menschen der Meinung, dass sie ihr Leben in den ostdeutschen Bundesländern nicht erfolgreich leben können."

Ein wichtiger Grund für die Abwanderung junger Menschen dürfte ökonomischer Natur sein. Denn nach wie vor sind die Einkommensunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland groß: Im vergangenen Jahr verdienten Vollzeitbeschäftigte in Ostdeutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts durchschnittlich 824 Euro brutto pro Monat weniger als Kollegen im Westen. 

Gefühl, wegziehen zu müssen

Außerdem gibt es laut Politologe Leibert in Ostdeutschland das Gefühl, wegziehen zu müssen, um etwas erreichen zu können. "In Befragungen haben wir erfahren, dass viele junge Menschen sich in ihrer Region nicht mal nach Möglichkeiten umschauen. Sie haben ihre Abwanderungsentscheidung früh gefasst und danach nicht mehr hinterfragt", so der Experte im Interview mit t-online. Und das, obwohl es in vielen Regionen gute Ausbildungsmöglichkeiten und Jobs gebe.

Dass junge Leute sich so verhalten, liegt Leibert zufolge auch an einer Erfahrung, die viele junge Ostdeutsche machen. "Es ist für viele Ostdeutsche seit Anfang der 1990er-Jahre eine sehr prägende Erfahrung, dass viele Gleichaltrige wegziehen - ob in die großen Städte wie Dresden oder Leipzig oder nach Westdeutschland. Da hat sich eine gewisse Eigendynamik entwickelt", meint Leibert im Interview mit t-online.

Erwerbstätige Bevölkerung sinkt

Für Ostdeutschland, das inzwischen so wenig Einwohner hat wie 1907, habe das hat Folgen, erklärt Oliver Holtemöller vom Leibniz-Insitut für Wirtschaftsforschung Halle gegenüber dem mdr. "Die demografische Situation in Ostdeutschland kann man durchaus als dramatisch bezeichnen. In den ländlichen Regionen der ostdeutschen Flächenländer muss man davon ausgehen, dass es in Zukunft sehr schwierig wird, Beschäftigte zur Besetzung aller Arbeitsplätze zu finden."

Bereits jetzt ist das Durchschnittsalter in Ostdeutschland höher als im Westen, weniger Menschen im Osten sind im arbeitsfähigen Alter: Laut dem Zensus 2022 waren in den ostdeutschen Ländern (ohne Berlin) 57,5 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahre alt. In den westdeutschen Ländern lag der Anteil dagegen bei 61,6 Prozent. Holtemöller schätzt, dass diese Entwicklung in den kommenden Jahren anhält: Die Anzahl der Erwerbstätigen könnte nach seiner Einschätzung in manchen Regionen Ostdeutschlands in den nächsten zehn Jahren um zehn bis 15 Prozent zurückgehen.

Hoffnung auf große Ansiedlungen

Auffällig sind die Unterschiede zwischen den ostdeutschen Bundesländern: "Während bei Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen in den vergangenen Jahren ein positiver Binnenwanderungssaldo zu verzeichnen war, sind Thüringen und Sachsen-Anhalt seit 1991 durchgängig von einer Nettoabwanderung in die westdeutschen Länder betroffen", heißt es vom Statistischen Bundesamt.

Profitieren konnte etwa Brandenburg von seiner Nähe zu Berlin: Viele Menschen zogen laut einer aktuellen Auswertung von Zeit Online zuletzt ins Berliner Umland - etwa nach Barnim, Oberhavel oder Dahme-Spreewald. Hinzu kommt die Sogwirkung der Tesla-Ansiedlung im brandenburgischen Grünheide, die gut bezahlte Arbeitsplätze in der Region schafft: Derzeit beschäftigt der E-Auto-Hersteller dort 12.000 Mitarbeiter. Auch Sachsen hofft, dass die geplante Ansiedlung des Chipherstellers TSMC eine Sogwirkung hat.

"Das Gesamtpaket muss stimmen"

Oliver Holtemöller betont gegenüber tagesschau.de aber auch: "Wenn man die Menschen zum Bleiben bewegen möchte, muss das Gesamtpaket stimmen. Im ländlichen Raum wird das immer schwerer, weil die Fixkosten je Einwohner für die Infrastruktur immer stärker steigen, wenn die Bevölkerung schrumpft."

Vor dieser Problematik stünden alle ländlichen Region - in Ost und West. "Da es in Ostdeutschland weniger urbane Ballungszentren und mehr ländlichen Raum als in Westdeutschland gibt, ist Ostdeutschland von diesem Phänomen stärker betroffen als der Westen", so Holtemöller.

Mit Informationen von Lilli-Marie Hiltscher, ARD-Finanzredaktion.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 01. Oktober 2024 um 23:49 Uhr.