Gestelltes Bild zum Thema häusliche Gewalt. Schatten sollen symbolisieren, wie ein Kind versucht, sich vor der Gewalt eines Erwachsenen zu schützen.

Tag der Gewaltlosigkeit Eine Gesellschaft ohne Gewalt - geht das?

Stand: 02.10.2024 06:24 Uhr

Gewalttaten gehören zu unserem Alltag. Aber müssen wir wirklich mit Gewalt leben? Welche Faktoren das Gewaltpotenzial erhöhen - und wie man eigene Gewaltausbrüche verhindert kann.

Von Sylvaine von Liebe und Anette Kolb, BR

Laut Bundeskriminalamt gab es 214.099 erfasste Gewalttaten im Jahr 2023. 8,6 Prozent mehr als im Jahr 2022. Bestimmte Risikofaktoren können die Gewaltbereitschaft bei Menschen erhöhen. Viele davon sind beeinflussbar. Trotzdem scheint eine Gesellschaft ganz ohne Gewalt aussichtslos zu sein, sagen Forschende.

Wer als Kind lernt, dass Gewalt eine Art ist, mit Problemen umzugehen, wird dies auch als Erwachsener tun - so die Erfahrung von Wissenschaftlern. Erleben Menschen in ihrer Kindheit körperliche, emotionale oder sexuelle Gewalt, kann das ihre Gewaltbereitschaft als Kind und später als Erwachsener erhöhen. Jede Art von schlechtem Gefühl, wie etwa Stress, versuchen sie, aufgrund ihrer in der Kindheit erlernten Mechanismen mit Aggression zu kompensieren.

Die Rolle der Gene

Grund für diese auftretende erhöhte Gewaltbereitschaft ist unter anderem die Aktivierung bestimmter Gene. Wissenschaftler haben mittlerweile rund 40 Gene gefunden, die mit Gewalt in Zusammenhang gebracht werden.

Das MAO-A Gen zum Beispiel lässt uns, wenn es weniger aktiv ist, aggressiver werden, weil dann weniger Dopamin und Noradrenalin im Gehirn abgebaut werden. Eine hohe Konzentration dieser beiden Botenstoffe im Gehirn macht uns wütend. Auch das 5-HTT-Gen, das für den Transport von Serotonin zuständig ist, spielt eine Rolle. Wer zu wenig davon hat, reagiert aggressiver und impulsiver.

Auch Risikofaktoren entscheidend

Nur: Ob jemand später tatsächlich gewalttätig wird oder nicht, lässt sich nicht anhand bestimmter Gene vorhersagen. Entsprechende von Wissenschaftlern durchgeführte Versuche sind bisher gescheitert. Entscheidend für eine erhöhte Gewaltbereitschaft ist laut Forschenden die Aktivierung dieser mit Gewalt assoziierten Gene und verschiedene Risikofaktoren, wie Vernachlässigung, körperlicher und emotionaler Missbrauch. Eine Kindheit mit schlechten Rahmenbedingungen begünstigt daher eine erhöhte Gewaltbereitschaft, so die Wissenschaftler.

Was passiert im Gehirn?

Bei Gewaltausbrüchen sind im Wesentlichen die Hirnregionen Hypothalamus, Mandelkern und Hirnrinde beteiligt. Wenn uns jemand plötzlich angreift, erfährt das zunächst die Hirnrinde. Sie analysiert das Geschehen und entscheidet, wie gefährlich die Situation ist. Ist sie gefährlich, meldet sie das dem Mandelkern, auch Amygdala genannt. Dort wird entschieden, wie auf die gefährliche Situation reagiert werden soll. Mit Flucht oder mit einem Angriff. Der Mandelkern gibt den Impuls dann weiter an den Hypothalamus. Und der gibt dem Gehirn schließlich den Befehl, anzugreifen, das heißt, aggressiv zu werden. Das vegetative Nervensystem wird sofort aktiviert, damit wir kämpfen können.

Bei kühl geplanten Gewalttaten werden hingegen bestimmte Nervenzellen im Gehirn aktiviert, die dafür sorgen, dass Dopamin ausgeschüttet wird. Der Botenstoff aktiviert das Belohnungszentrum. Ist das Belohnungszentrum einmal aktiviert, sagt es dem Gehirn: Möglichst noch einmal. Diese Gewalt kann daher süchtig machen.

Tipps, wie man Gewalt verhindern kann

Wer seine Kinder vor körperlichem und emotionalem Missbrauch schützt, hat eine gute Chance, dass diese später weniger gewalttätig werden. Weitere Faktoren, die meist zu weniger Gewalt und Aggressivität führen: eine gute Wertevermittlung, soziale Kontakte und Bindungen.

Sich selbst vor dem eigenen Gewaltpotenzial schützen, kann man zum Beispiel, indem man sich in Konfliktsituationen nicht provozieren lässt und lieber erst mal innehält. Manchmal hilft es auch, Konflikten aus dem Weg zu gehen, indem man zum Beispiel den Raum verlässt.

Warum eine gewaltfreie Gesellschaft eher unrealistisch ist

Gefühle wie Angst, Frustration und mangelnde Wertschätzung gehören zum Menschsein, sind tief in uns verwurzelt, aber gleichzeitig häufig Auslöser von Gewalt. Weil das so ist, halten die meisten Wissenschaftler eine Gesellschaft ohne Gewalt für unrealistisch.

Ein Blick in die Geschichte zeigt auch: Gewalt hat es immer gegeben. Manche Wissenschaftler sagen: Gewalt sei eine Grundkomponente, die wir aus der Evolution mitgenommen haben. Respekt, Höflichkeit und gegenseitiges Verständnis einerseits und klare Gesetze, Regeln, eine faire Rechtsprechung und ein guter Lebensstandard andererseits können aber dazu beitragen, dass es weniger Gewalttaten gibt.