Frauen in Afghanistan Caritas setzt auf Kompromiss mit Taliban
Nach dem Beschäftigungsverbot für Frauen in Afghanistan haben viele Hilfsorganisationen ihre Arbeit überwiegend ausgesetzt. Stefan Recker von Caritas International erklärt die Konsequenzen - und warum er noch auf einen Kompromiss hofft.
tagesschau24: Als Hilfsorganisation die Arbeit in einem Land einzustellen ist ein Schritt, der gut überlegt sein will. Was versprechen Sie sich davon?
Stefan Recker: Wir haben unsere Arbeit hier nicht komplett eingestellt, sondern wir haben sie unterbrochen und das auch nur in den nicht-medizinischen Bereichen. Wir haben verschiedene medizinische Projekte, in denen die Arbeiten weiterlaufen, weil dort die afghanischen Kolleginnen weiterarbeiten dürfen und diese Projekte nicht unterbrochen werden sollten.
Unsere Verteilungen sind unterbrochen worden, um ein Zeichen zu setzen, und weil wir ohne unsere Kolleginnen nicht an die weiblichen Hilfsbedürftigen rankommen.
Stefan Recker leitet seit 2014 die Vertretung von Caritas international in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Der 57-Jährige kennt das Land wie nur wenige - insgesamt hat er seit 1995 mehr als 19 Jahre in dem Land gelebt und gearbeitet.
"Das ist ein kontinuierlicher Prozess"
tagesschau24: Aber die Entscheidung ist durchaus umstritten, denn dadurch verschlechtert sich die Situation im Land doch noch weiter. Wiegt es das denn auf?
Recker: Das müssen wir abschätzen. Das ist eine kontinuierliche Diskussion zwischen uns und unseren Partnern, auch mit den anderen Hilfsorganisationen, auch mit den deutschen Hilfsorganisationen, mit denen wir uns aber im Einklang befinden. Momentan haben wir die Arbeit unterbrochen, aber das ist ein kontinuierlicher Prozess. Wir müssen gucken, wie das weitergeht.
"Optimistisch, dass es einen Kompromiss geben wird"
tagesschau24: Sie haben gesagt, Sie möchten damit ein Zeichen setzen. Haben Sie wirklich die Hoffnung, dass sich die Taliban davon beeindrucken lassen?
Recker: Beeindrucken nicht. Aber vielleicht nehmen sie ihre Entscheidungen in kleinen Etappen zurück. Ich bin relativ optimistisch, dass es da zu einem Kompromiss kommen wird, bei dem beide Seiten aufeinander zugehen, und dass es hier eine Lösung gibt.
"Hier geht es um Überlebenshilfe"
tagesschau24: Aber die Taliban haben ja schon oft gezeigt, dass ihnen die internationale Reaktion egal ist - denken wir da zum Beispiel nur an das Hochschulverbot für Frauen!
Recker: Ja, aber hier geht es konkret um humanitäre Hilfe, um Überlebenshilfe. Ich denke, das ist vielleicht eine andere Sache, und da kann man unter Umständen aufeinander zugehen. Ich bin Berufsoptimist, und wir müssen gucken, dass es eine Lösung gibt.
"Versuchen, dass sie von zu Hause arbeiten können"
tagesschau24: Wie haben denn Ihre Mitarbeiterinnen auf diese Entscheidung der Taliban reagiert?
Recker: Die sind natürlich sehr, sehr traurig und betroffen, weil sie stolz sind, bei einer Hilfsorganisation zu arbeiten. Sie sind froh, ein Einkommen zu haben. Wir haben ihnen garantiert, dass ihr Einkommen bestehen bleibt, dass ihre vertraglichen Bedingungen bestehen bleiben. Wir versuchen, dass sie von zu Hause arbeiten können. Aber sie sind natürlich sehr traurig und betroffen.
"Verbot wird alle betreffen"
tagesschau24: Sie leben seit Jahren in Afghanistan und können einschätzen, was sich verändert hat. Wie ist denn aktuell die Lage im Land und was bedeutet dieses Verbot und die Einschränkung von Hilfsangeboten für das Land insgesamt?
Recker: Mehr als 90 Prozent der Menschen hier im Land sind von internationaler Hilfe abhängig. Das Verbot wird alle betreffen - nicht nur die unmittelbaren Hilfsempfängerinnen und -empfänger unserer Programme, sondern alle. Und der Winter wird hart. Es ist gerade schon sehr kalt hier. Deshalb müssen wir versuchen, zu irgendeiner Lösung zu kommen.
tagesschau24: Ist das vergleichbar mit einer Situation von früher? Haben Sie so was schon mal erlebt?
Recker: Ich bin einer der wenigen Mitarbeiter von internationalen Organisationen, die schon unter den "Taliban 1.0", also in den 1990er-Jahren, gearbeitet haben. Das war die Lage sehr ähnlich.
"Taliban ermöglichen, das Gesicht zu wahren"
tagesschau24: Die internationale Staatengemeinschaft ist in der Klemme. Wie kann sie die Not lindern, den Frauen helfen und zugleich auch noch den Druck auf die Taliban erhöhen?
Recker: Wir wollen keinen Druck auf die Taliban ausüben, sondern wir wollen sie in eine Richtung bewegen, die es ihnen ermöglicht, das Gesicht zu wahren und ihre Entscheidungen etwas zurückzunehmen. Aber es ist ein schwieriger Balanceakt, und wir müssen gucken, dass wir unseren Hilfsbedürftigen und speziell Frauen und Kindern weiter Hilfe angedeihen lassen, aber zugleich unseren Prinzipien treu bleiben. Das wird schwer sein, aber ich bin optimistisch, dass es über kurz oder lang eine Lösung gibt.
Das Gespräch führte Romy Hiller, tagesschau24