Ein von einem Zaun umgebenes Lager in Syrien.

IS-Lager in Syrien "Eine tickende Zeitbombe"

Stand: 21.12.2024 03:47 Uhr

In einem Lager in Nordostsyrien sitzen zehntausende IS-Anhänger mit ihren Familien ein. Doch welche Pläne hat die neue islamistische Regierung für sie? In den Kurdengebieten haben die Menschen Angst.

Von Matthias Ebert, SWR, zzt. Syrien

Wenn man dem Lager al-Hol in Nordostsyriens Wüste näher kommt, steigert sich die Zahl der Checkpoints. Schwer bewaffnete Kämpfer des von Kurdentruppen angeführten Militärbündnisses SDF kontrollieren penibel, wer hinein- und wer hinausfährt.

Auf einem befestigten Hügel überwacht Ghani Ahmed das riesige Gelände, auf dem 40.000 Menschen in Zelten hausen. Er ist als Kommandeur verantwortlich für die Sicherheit dieses Camps, das weltweit einmalig ist: In al-Hol sitzen die Familienangehörigen der Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staats ein.

Menschen in einem Lager in Syrien.

Mehr als 40.000 ehemalige IS-Terroristen und ihre Familienangehörigen leben im Lager al-Hol.

"Lernen die Ideologie der Dschihadisten"

Die Sicherheit ist derzeit das, was Ghani Ahmed am meisten Sorgen bereitet: "Die Kinder, die hier aufwachsen, lernen die Ideologie der Dschihadisten. Daher stellen sie eine sehr große Gefahr dar - für Europa und die Welt." Al-Hol sei eine tickende Zeitbombe, gerade jetzt, wo in Damaskus Islamisten die Macht übernommen haben.

Im Lager können sich die Insassen frei bewegen. Fast alle Frauen sind mit einem Nikab vollverschleiert. Auch Fatma Serhan, die aus dem Irak stammt und deren Sohn seit anderthalb Jahren in einem Gefängnis außerhalb von al-Hol einsitzt. "Dort gibt es Krankheiten, es ist dreckig, alle hungern. Wieso sperren sie nicht lieber mich dort ein? Sie behaupten, er sei ein Terrorist."

Bis zuletzt für den IS gekämpft

Ein solches Hochsicherheitsgefängnis dürfen Journalisten nicht besuchen. Doch die kurdischen Behörden bringen einen inhaftierten Deutsch-Marokkaner, der 2012 in den syrischen Bürgerkrieg gezogen war, für ein Gespräch.

Mohammed el-Misrouli gibt zu, Mitglied des IS gewesen zu sein, nachdem er aus Marokko nach Deutschland ausgewandert sei. "Ich kam als Student nach Bochum und war anfangs eingeschrieben in Elektrotechnik und Informationstechnologie", sagt er.

Elf Jahre habe er in Deutschland gelebt, eine Deutsche geheiratet, den deutschen Pass erhalten. Als 2012 in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, sei er erst in die Region Idlib gereist, später ins damalige "Kalifat" des IS und habe dort eine Syrerin geheiratet, mit der er Kinder bekam.

Die Wachen erzählen, el-Misrouli habe in der Stadt Baruz als einer der letzten IS-Kämpfer die Waffen niedergelegt. Sie vermuten, er habe eine bedeutende Rolle für den IS in dieser Region gespielt.

"Ich trage keine Verantwortung"

Heute gibt sich el-Misrouli geläutert und spricht sich für ein friedliches Zusammenleben aller Religionen aus. "Deutschland ist mein Land, ich respektiere es und will dorthin zurückkehren", erklärt er.

Auf die Frage, wie er heute über die brutalen Verbrechen des IS denkt, der auch ausländische Journalisten hinrichten ließ, antwortet el-Misrouli: "Ich trage keine Verantwortung für solche Taten. Aber jeder Staat hat eben seine eigene Politik. Auch in Deutschland unter Hitler wurde gemordet."

"Mit den Dschihadisten allein gelassen"

Zurück in al-Hol: In der Lagerzentrale steht die Leiterin Jihan Hanan vor einer riesigen Karte des Camps und zeigt auf einen Bereich unten rechts:

Die Ausländersektion ist die extremistischste. Dort leben völlig überzeugte Dschihadisten, die glauben, dass sie bald freikommen und das Kalifat zurückkehrt.

Insgesamt 6.000 ausländische IS-Anhänger aus 42 Nationen gebe es dort. Darunter viele Kinder, die im Camp geboren wurden.

Hanan bemängelt, was die Dschihadisten betrifft, werde die kurdisch-dominierte Selbstverwaltung in Nordostsyrien durch die internationale Gemeinschaft allein gelassen.

"Wir haben alle Länder gebeten, zu helfen und ihre Dschihadisten zurückzunehmen. Aber leider hat kaum jemand geantwortet. Deshalb gibt es dieses Camp noch immer", sagt Hanan. Die deutsche Regierung habe zwar ein paar Dschihadisten zurückgeholt, aber nicht alle.

Kinder in einem Lager in Syrien.

Im IS-Lager wurden viele Kinder geboren. Laut den Wächtern des Lagers werden Kinder gezielt radikalisiert.

Kinder sollen "das Köpfen lernen"

Kommandeur Ghani Ahmed beobachtet eine strenge Ideologie unter den Ausländern in al-Hol: "Sie trainieren ihre Kinder an Spielzeugwaffen und lassen sie die Köpfe von Tieren abschneiden, um das Köpfen zu lernen. Sie unterrichten sie auch im Bauen von Minen."

Am Zaun kommt ein Junge näher. Er heiße Abdallah und sei Turkmene, sagt er. Schnell beginnt der Achtjährige, die Wachen vulgärst zu beleidigen. Der IS sei besser als sie. "Wir werden euch töten, weil ihr Ungläubige seid. Frauen müssen Schleier tragen."

Männer stehen vor einem Lager in Syrien.

Unter den kurdischen Wärtern des IS-Lagers steigt die Nervosität. Sie vermuten, es gebe Aufstandspläne.

Sorge vor geplantem Aufstand

Unter den kurdischen Wärtern steigt mittlerweile die Nervosität. Bei einer Razzia hätten sie zuletzt geheime Waffendepots und Tunnel entdeckt.

Sie vermuten, die Insassen planten einen Aufstand mit Hilfe von IS-Schläferzellen von außerhalb, die laut US-Militär in der Wüste immer aktiver würden. Lagerleiterin Hanan erzählt:

Die Insassen fordern, wir sollten sie entlassen, weil die neue, islamistische Führung in Damaskus ohnehin bald komme, um sie zu befreien.

Angst vor einer erneuten Machtübernahme des IS

Die syrischen Kurden waren entscheidend bei der Niederschlagung des IS-Terrorregimes. In der Schlacht um Kobane hatten viele kurdische Kämpfer 2018 ihr Leben gelassen. Daher kommt für sie eine Entlassung nicht in Frage.

Doch die Angst vor einer erneuten Machtübernahme des IS in Nordostsyrien ist groß, auch bei Lagerleiterin Hanan, die keinen Schleier trägt. "Wenn der IS zurückkommt, was werden sie mir antun, was meiner Tochter?", fragt sie sich.