Syriens Nordosten Chaos, Angst und etwas Hoffnung
Der Geruch von verkohltem Gummi. Ausgebrannte Trucks. Und immer wieder Explosionen. Ein Besuch der kurdischen Gebiete zeigt, wie angespannt die Situation im Norden Syriens ist. Auch weil gleich mehrere Parteien militärisch eingreifen.
Plötzlich flammen orangefarbene Blitze im Nachthimmel auf, Explosionen sind zu hören, mehrere direkt hintereinander. Ganz offensichtlich fliegt gerade ein Munitionsdepot im nordostsyrischen Ort Kamischli in die Luft. Auf der Hotelterrasse versammeln sich Angestellte und Journalisten und verfolgen den Angriff.
Kurz darauf wird klar: Es war ein Angriff der israelischen Luftwaffe auf den Flughafen von Kamischli, von dem sich die Soldaten des inzwischen gestürzten Machthabers Bashar al Assad erst vor wenigen Tagen zurückgezogen hatten, um in den Irak zu fliehen.
Mehr als 300 militärische Anlagen habe Israel seit dem Wochenende attackiert, berichtet die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu versucht ganz offensichtlich, die chaotische Übergangsphase nach der Machtübernahme der islamistischen Milizen zu nutzen, um das neue Syrien massiv militärisch zu schwächen.
Die kurdischen Kämpfer sind angespannt
Die Kurden in Kamischli sind angespannt wegen der neuen militärischen Lage. Am Sonntag hatten sie mehrere Assad-Statuen auf den Plätzen der Stadt heruntergerissen. Doch die Freude über den Sturz des Langzeitherrschers währte nicht lang.
Unzählige Checkpoints in der autonomen kurdischen Region im Nordosten Syriens wurden verstärkt. Die jungen, bewaffneten Kämpfer wirken angespannt.
Es geht die Angst um, islamistische Kräfte oder IS-Kämpfer könnten ins Kurdengebiet eindringen, um Chaos zu stiften und die demokratische Selbstverwaltung hier durch Anschläge zu schwächen. Denn noch immer kommt es zu Anschlagsversuchen durch Selbstmordattentäter.
Und: Im Westen des Landes greifen islamistische Milizen der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) die kurdisch-dominierten Truppen der SDF (Syrische Demokratische Kräfte) in der Region Manbidsch offen an.
Erdogan will die Gelegenheit nutzen
Die SNA wird seit Jahren von der Türkei unterstützt, seit die türkische Armee 2018 mit völkerrechtswidrigen Luftangriffen Teile des kurdisch dominierten syrischen Grenzgebiets unter Kontrolle der SNA brachte.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht in der Kurdenmiliz YPG, die die führende Kraft der SDF ist, einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die er auch im Inland vehement bekämpft. Den Sturz Assads nutzt er nun, um seine Attacken auf die kurdischen Kräfte zu verstärken, um sie weiter zurückzudrängen.
Offizielle türkische Vertreter bezeichnen die Kurden dabei als "Terroristen", gegen die vorgegangen werden müsse - und nennen sie damit in einem Atemzug mit der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), die auch im kurdischen Teil Syriens weiterhin von Rückzugsorten aus operiert und versucht, das derzeitige Machtvakuum im Land zu nutzen.
NATO-Partner mit unterschiedlichen Interessen
Offen zutage tritt dabei ein Konflikt zwischen zwei NATO-Partnern: Während die Türkei auch aus innenpolitischen Motiven die Kurden ins Visier nimmt, drängen die USA auf ein Ende der Angriffe durch Erdogans Milizen und bombardieren ihrerseits IS-Stellungen in Zentralsyrien - im Verbund mit SDF-Kräften. 900 US-Soldaten sind bei Deir ez-Zor stationiert.
Die komplizierte Gemengelage lässt die Kurden mit Sorge in die Zukunft blicken. Unklar ist, wie es weitergeht mit ihrer weitgehend demokratisch organisierten Selbstverwaltung im Nordosten, wo Frauen im Militär und der öffentlichen Verwaltung gleichberechtigt sind.
Auch Russland ist präsent
Am Flughafen Kamischli ist die Lage angespannt nach den Angriffen der Nacht durch Israel. Russische Truppen sind hier stationiert und kontrollieren die Grenzregion - in Absprache mit den Kurden.
Russische Transportmaschinen stehen neben dem Rollfeld. Die russische Führung war vermutlich eingeweiht in die israelischen Angriffspläne, zumindest deutet am Flughafen-Eingang nichts auf das Gegenteil hin.
Ein Stück weiter stehen mehrere ausgebrannte Trucks des syrischen Militärs auf einer Landstraße. Ein Geruch von verkohltem Gummi und Metall liegt in der Luft. Auch diese Lkw wurden von Israel zerstört.
Zivilisten suchen neugierig in der Asche nach dem, was übriggeblieben ist. Kurdische Kämpfer sichern den Ort ab und versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen, das in der Nacht verursacht wurde.
"Russland ist mit Ihnen", verspricht dieser russische Armeelaster in der Region von Kamischli. Wie schnell sich das aber ändern kann, hat der Sturz Assads gezeigt.
Gespräche mit der HTS?
Russland, die USA, Israel und die Türkei sind derzeit militärisch in Syrien aktiv - jeder mit eigenen Zielen. Das trifft auch auf die unterschiedlichen Milizen zu, die gemeinsam eine neue Regierung in Syrien bilden müssen.
HTS-Milizanführer Muhammed al-Dscholani versucht derzeit, mit einem versöhnlichen Kurs alle Volksgruppen einzubinden. Ob er sich damit durchsetzt, bezweifeln derzeit noch viele Kurden in Kamischli.
Derzeit laufen wohl hinter den Kulissen Gespräche zwischen der Führung der Kurden und al-Dscholani. Beide Seiten eint ein Ziel: Sie haben erklärt, Ruhe und Stabilität nach Syrien bringen zu wollen.
Nur so können das geschundene Land und die syrische Wirtschaft wieder auf die Beine kommen - und das ist ein großes Interesse, das sowohl die Kurden als auch HTS-Führer al-Dscholani teilen.