Ein Soldat der Rebellen steht in einem verwüsteten Büro in Damaskus (Syrien)
interview

Wiederaufbau nach Assad-Sturz "Löst man den Staatsapparat komplett auf?"

Stand: 22.12.2024 05:56 Uhr

Nach dem Sieg über das Assad-Regime müssen die Rebellen einen neuen Staat aufbauen. Der Syrien-Experte André Bank beschreibt die Probleme, vor denen die Rebellen dabei stehen. Eine entscheidende Frage: Wie gehen sie mit dem alten Staatsapparat um?

tagesschau.de: Das Assad-Regime ist zusammengebrochen, nun muss die bisherige Rebellengruppe HTS einen neuen Staat aufbauen. Welche ist dabei die größte Herausforderung?

André Bank: Die größte Herausforderung ist, zu entscheiden: Wo ist ein Umbau des Staates erforderlich und wo ein Neuaufbau? Weite Teile des Landes sind nach mehr als 13 Jahren Krieg zerstört, also auch die staatliche Infrastruktur - Ämter, Behörden, Schulen, die Gesundheits- oder Energieversorgung. Das betrifft vor allem die Gebiete, die bislang von den Rebellen gehalten wurden.

In den bislang von dem Assad-Regime gehaltenen Gebieten gibt es diese Form des Staates noch. Dort geht es vor allem darum, zu entscheiden, welche Personen des alten Regimes beim Neuaufbau weiter benötigt werden - und welche man wegen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht bringen muss.

André Bank
Zur Person
Dr. André Bank ist Senior Research Fellow beim GIGA -Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Krieg in Syrien, politische Herrschaft und regionale Ordnung im Nahen Osten.

Wie Menschenrechtsverstöße aufarbeiten?

tagesschau.de: Wie löst man diesen Widerspruch auf und tritt auch der Angst vor unkontrollierter Rache entgegen?

Bank: Die HTS hat angekündigt, Listen derjenigen zu erstellen, denen sie schwerste Menschenrechtsverletzungen vorwirft. Hier wird sie Namen, die sie selbst schon notiert hat, abgleichen mit internationalen Sanktionslisten.

Diese Liste wird lang sein, und trotzdem werden auf ihr nicht mittlere Ränge im Staatsapparat stehen, obwohl auch sie mitverantwortlich für das jahrzehntelange Überleben einer brutalen Diktatur waren. Interessant wird auch sein, ob Menschenrechtsverletzungen von Rebellengruppen über diese Liste erfasst werden.

Die große Frage ist, welchem Modell man folgt. Folgt man dem argentinischen Modell nach Ende der Militärdiktatur 1983 und erlässt eine Art Generalamnestie für alle, auch höhere Ränge im Staat, Geheimdienst, Militär und Polizei? Erst einige Jahre später hatte dann der Nachfolgepräsident in Argentinien versucht, Straftäter noch zur Verantwortung zu ziehen.

Oder folgt man dem irakischen Beispiel und löst wie 2003 die Staatspartei, den Staatsapparat und die Sicherheitsorgane komplett auf und sanktioniert danach auch die mittlere und untere Ebene der Staatsbediensteten?

Werden auch die niedrigeren Ränge belangt werden?

tagesschau.de: Die jahrzehntelang herrschende Baath-Partei von Präsident Baschar al-Assad hat ihre Auflösung schon bekanntgegeben. Deutet das auf das irakische Modell hin, das verheerende Folgen hatte?

Bank: Eine "Stunde Null" nach irakischem Vorbild wird es in Syrien sicher nicht geben, das haben die ersten zwei Wochen nach dem Sturz des Regimes schon gezeigt. Im Irak gab es einen Regimewechsel von außen, der von den USA militärisch durchgesetzt wurde, und es gab eine sehr ideologische Vorstellung der Ent-Baathifizierung von oben.

In Syrien ist es ein primär innersyrisch getriebener Umsturzprozess, der von Syrern dominiert wird, auch wenn externe Akteure eine Rolle spielen. Bislang sendet die HTS politische Signale, dass sie zumindest Teile des alten Staatsapparats behalten möchte. Wo sie die Linie zieht, ist noch nicht klar, und hier wird es auch auf die zeitliche Abfolge ankommen. Werden niedrigere Ränge später doch belangt werden? Das wissen wir heute noch nicht.

Wie die Staatsbediensteten bezahlen?

tagesschau.de: Das neue Regime muss in der Lage sein, seine Bediensteten zu bezahlen. Kann es das?

Bank: Viele Staatsbedienstete in den Regimegebieten sind seit langer Zeit nicht mehr zur Arbeit gegangen, weil das Gehalt so niedrig und die Lebenshaltungskosten so hoch waren. Es gab eine Hyperinflation, und allein die Transportkosten haben die Gehälter aufgefressen. Lehrer haben in Syrien zuletzt bestenfalls 50 US-Dollar im Monat verdient - das hat für eine vierköpfige Familie höchstens einen halben Monat gereicht.

Auch loyale Staatsbedienstete konnten so ihr wirtschaftliches Überleben nicht sichern. Zugleich ist die Kriminalität, der Drogenhandel, Erpressungen für viele zu einer entscheidenden Einnahmequelle geworden.

Die HTS steht deshalb vor der Frage, wie sie den Staatsbediensteten ein ausreichendes Einkommen sichern kann. Und übrigens auch den bisherigen Rebellen, damit sie bereit sind, die Uniform ab- und den Anzug anzulegen, weil sie sehen, dass es für sie auch eine ökonomische Perspektive gibt.

Daran wird sich auch entscheiden, was aus der Schattenwirtschaft wird - aus dem Drogenhandel, von dem das Assad-Regime zuletzt zentral gelebt hat. Es wäre ja denkbar, dass Rebellengruppen, die mit ihrer Rolle und ihren Möglichkeiten im neuen System unzufrieden sind, diesen Drogenhandel weiterführen und damit den Umbauprozess torpedieren.

Bedeutung und Hürden internationaler Hilfe

tagesschau.de: Sind internationale Hilfen auch deshalb schnell erforderlich?

Bank: Ein Wiederaufbau geht kurzfristig und vermutlich auch mittelfristig nur mit externer Hilfe. Syrien ist nicht in der Lage, kurzfristig ausreichend Einnahmen zu generieren. Das Land hat nicht ausreichend Ressourcen, die es exportieren könnte. Es ist auch kurzfristig kein Investitionsboom zu erwarten. Ein Großteil der Gelder müsste nach diesem verheerenden Krieg in den Wiederaufbau gehen.

tagesschau.de: Noch ist dieser Krieg in Teilen des Landes nicht beendet und externe Akteure verfolgen weiter eigene Interessen - was bedeutet das für Syrien und für internationale Hilfe?

Bank: Das ist eine weitere Hürde für den Neuaufbau. Es gibt auch unter den externen Akteuren Interessen- und teilweise Zielkonflikte. Die Türkei will den kurdischen Einfluss im Norden Syriens zurückdämmen und hat dort den Krieg sogar eskaliert. Andererseits will die Erdogan-Regierung, dass möglichst viele geflüchtete Syrer in ihr Herkunftsland zurückkehren, was Stabilität voraussetzen würde.

Auch das israelische Militär greift weiter in Syrien ein, das US-Militär ist weiter aktiv gegen den "Islamischen Staat", es gibt weiterhin russische und proiranische Kräfte, die alle ihren eigenen Interessen folgen.

"Die HTS ist eine patriarchale, konservative Organisation"

tagesschau.de: Worauf sollten die internationalen Geldgeber vor Hilfszusagen bestehen?

Bank: Die erste Voraussetzung wäre, dass es einen geregelten Übergang von der alten zu der neuen Macht gibt. Das hat die HTS schon zugesagt, und daran muss man sie messen. Dann kommt es darauf an, wie inklusiv dieser Prozess ist. Wird es einen Übergang geben, der nur von sunnitischen Islamisten und nur von Männern geführt wird? Die HTS ist eine patriarchale, konservative Organisation, in der Frauen oder sich geschlechtlich anders identifizierende Personen überhaupt keine Rolle spielen - im Gegensatz zu anderen Rebellengruppen.

Wird es einen Minderheitenschutz geben, sowohl in ethnischer als auch in konfessioneller Hinsicht? Welche Freiheiten und Möglichkeiten wird es für Kurden, Drusen, Christen und vor allem für Alawiten geben? Dieser Religionsgemeinschaft hat der ehemalige Präsident Assad angehört hat, und sie fürchten besonders die Rache der neuen Herrscher und ihrer Unterstützer.

Schutz der Frauen - "eine große Frage für die Zukunft des Landes"

tagesschau.de: Die HTS hat in den vergangenen Jahren über Teile der Provinz Idlib geherrscht. Kann man daraus Rückschlüsse ziehen, was den Neuaufbau Syriens betrifft?

Bank: HTS steht in der Tradition eines radikalen sunnitischen Islamismus. Sie hat sich aber transformiert und spätestens seit 2017 eine signifikante Regierungserfahrung aus der Provinz Idlib. Dort musste sie eng mit internationalen Geberorganisationen, zuvörderst den Vereinten Nationen, zusammenarbeiten, weil das Überleben der Bevölkerung und der vielen Geflüchteten aus anderen Landesteilen nur mit externer Hilfe gesichert werden konnte.

HTS-Chef Ahmed al-Scharaa hat dort schon immer Signale an religiöse Minderheiten gesendet, an die Christen, später auch an die Drusen, dass sie einen gewissen Schutz genießen. Das heißt nicht, dass sie gleichermaßen an der Macht beteiligt wurden. Aber zumindest gab es eine Tradition des Austausches und der moderaten Rhetorik.

Und drittens hat Scharaa zumindest gesagt, dass Frauen eines besonderen Schutzes bedürften. Aber da es keine Frauen auf den oberen oder mittleren Ebenen der HTS gibt, bleibt das eine ambivalente Aussage und eine große Frage für die Zukunft des Landes.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 16. Dezember 2024 um 17:47 Uhr und am 17. Dezember 2024 um 08:07 Uhr