EU-Ratspräsident Charles Michel mit Aserbaidschans Präsident Alijew und Armeniens Premier Paschinjan Ende August in Brüssel.
analyse

Armenien und Aserbaidschan Eine historische Chance auf Frieden

Stand: 01.06.2023 06:01 Uhr

Die verfeindeten Staaten Armenien und Aserbaidschan verhandeln unter internationaler Vermittlung über ein Friedensabkommen, das bis Herbst zustande kommen könnte. Nun nimmt Kanzler Scholz an den Gesprächen teil.

Vertrocknete, rissige Erde ist dort zu sehen, wo der Sarsang-Stausee um diese Jahreszeit noch gut gefüllt sein sollte - im Norden von Bergkarabach. Die Aufnahmen eines Lokaljournalisten belegen, was auch auf Satellitenaufnahmen zu sehen ist: Der Wasserspiegel sinkt seit Januar rapide.

Ausbleibender Niederschlag trug nur einen kleinen Teil dazu bei. Es sind vielmehr politische Entscheidungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, die in den kommenden Wochen zu einer massiven Energie- und Umweltkrise führen können.

Das Kraftwerk des Stausees muss nach armenischen Angaben seit Januar den Strom ersetzen, der sonst per Überlandleitungen aus Armenien nach Bergkarabach gelangt. Diese Kabel verlaufen über Gebiet, das Aserbaidschan im Krieg 2020 zurückerobert hat. Armenien beklagt, dass Aserbaidschan die Reparatur der Leitungen nicht zulasse.

Das Kerngebiet von Bergkarabach ist eine armenisch bewohnte Enklave unter Schutz russischer Truppen. Diese Truppen schauen jedoch weitgehend zu, wie Aserbaidschan den Druck erhöht und sich die Versorgungslage in Bergkarabach verschlechtert.

Das Vorgehen Aserbaidschans schadet allerdings auch dem Land selber. Denn das für die Stromversorgung aufgebrauchte Wasser des Sarsang-Stausees wird im Sommer auch aserbaidschanischen Bauern zur Bewässerung fehlen.

"Normale, loyale Bürger Aserbaidschans"

Der Fall zeigt, wie dringend eine Lösung des Konflikts zwischen Armeniern und Aserbaidschanern ist. In Bemühungen um ein Friedensabkommen sind neben Russland die USA und die EU eingebunden.

Während des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Moldau begleiten Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Treffen der Repräsentanten beider Staaten: Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew.

Da Alijew Macron einer "anti-aserbaidschanischen Haltung" bezichtigt, soll Scholz als Gegengewicht zu Macron wirken. Macron hatte Aserbaidschan im September 2022 einen massiven Angriff auf armenisches Territorium vorgeworfen und Armenien Unterstützung für dessen territoriale Integrität zugesagt. Macrons Aussage ist angesichts einer großen Gemeinde von Diaspora-Armeniern in Frankreich nicht zuletzt innenpolitisch motiviert.

Alijew wiederum lässt keinen Zweifel daran, dass er die Bedingungen für einen Frieden diktieren will und erhöhte vor den Gesprächen in Moldau noch einmal rhetorisch den Druck. Er forderte, die Regierung und das Parlament in Bergkarabach aufzulösen. Die Armenier dort müssten "normale, loyale Bürger Aserbaidschans" werden.

Chance nach dem ersten Krieg verpasst

Dabei hat Premier Paschinjan den Anspruch auf eine Unabhängigkeit Bergkarabachs schon aufgegeben. Seit mehr als einem Jahr spricht er nicht mehr vom Selbstbestimmungsrecht der Armenier in Bergkarabach, sondern von der Anerkennung der territorialen Integrität Aserbaidschans. Am 22. Mai stellte er klar, dass er damit auch anerkenne, dass Bergkarabach zu Aserbaidschan gehört, die Armenier dort aber Rechte und Sicherheiten erhalten müssten.

Erneut flammte in Armenien die Debatte auf, wer schuld an der Niederlage im Krieg 2020 sei: Paschinjan, der erst 2018 gewählt wurde, oder die heutige Opposition um Politiker wie Ex-Präsident Robert Kotscharjan, der selbst aus Bergkarabach stammt. Sie hatte die Jahre seit der Einnahme aserbaidschanischen Gebiets im ersten Krieg zu Beginn der 1990er-Jahre nicht genutzt, um einen stabilen Frieden auszuhandeln. Und sie hatte es versäumt, das Militär so auszurüsten, dass es den modernisierten Streitkräften Aserbaidschans ebenbürtig war.

Nach dem verlorenen Krieg 2020 konnte die Opposition um Kotscharjan zwar Tausende zu Protesten gegen Paschinjan mobilisieren. Trotzdem wurde er 2021 wiedergewählt. Im Grunde ist allen in Armenien klar, dass Bergkarabach für das Land verloren ist - und dass die Schutzmacht Russland nur ihre eigenen Interessen verfolgt. Russlands Führung um Präsident Wladimir Putin will zwar ihre militärische Präsenz aufrechterhalten, zeigt aber, dass sie in Aserbaidschan einen wichtigeren wirtschaftlichen und politischen Akteur sieht als in Armenien.

Ein gerechter Frieden

Dauerhafte Stabilität werde es in der Region jedoch nur geben, wenn ein Abkommen zu einem gerechten Frieden für die Armenier führe, warnt der Politik-Experte Eric Hacopian in Jerewan. Sonst drohe ein neuer, endloser Krieg.

Die Minimalbedingungen skizziert er im Interview mit tagesschau.de so: Verhandlungen zwischen der Führung von Bergkarabach und dem Regime in Baku müssten in einem internationalen Format unter Vermittlung der internationalen Gemeinschaft stattfinden. Das endgültige Abkommen müsse von der internationalen Gemeinschaft garantiert werden. Und es müsse eine internationale Präsenz vor Ort geben, um die lokale Bevölkerung zu schützen und die Einzelheiten des Abkommens durchzusetzen.

Details der Regierungsführung in Bergkarabach, womöglich nach dem Vorbild anderer Konfliktgebiete wie auf dem Balkan, könnten später ausgearbeitet werden. Entscheidend sei, dass Baku keine "direkte Herrschaft" über die Armenier in Bergkarabach ausübe. Sonst drohten ethnische Säuberungen und im schlimmsten Fall ein neues Srebrenica, warnt Hacopian eindringlich.

Hoffnung auf Stabilität und Aufschwung

Darüber hinaus muss sich der geplante Ausbau der Infrastruktur in der gesamten Region auch für Armenien lohnen. Es ist die Aussicht auf Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung, mit der Paschinjan die Bevölkerung von einem Abkommen zu überzeugen versucht.

Auch Alijew braucht Stabilität und wirtschaftliche Perspektiven, da die Öl- und Gasvorkommen Aserbaidschans in absehbarer Zukunft zur Neige gehen. Zudem hat er offenbar nach dem bislang letzten großen Angriff auf Armenien im September 2021 eingesehen, dass er seine Ziele derzeit nicht mit militärischen Offensiven durchsetzen kann. Das Risiko einer ausufernden Konfrontation ist wohl auch den Regionalmächten Iran, Türkei und Russland zu groß.

Insofern gibt es eine Chance, dass bei angemessenem internationalem Druck bis zum Herbst ein Abkommen zustande kommt, mit dem beide Staaten leben können. Die Tür zu einem Frieden ist einen Spalt weit geöffnet.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 01. Juni 2023 um 11:11 Uhr.