
Proteste junger Türken İmamoğlus Verhaftung ist nur der Anlass
Seit der Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters İmamoğlu reißen die Proteste nicht ab. Gerade den jungen Demonstranten geht es dabei oft um viel mehr - um eine Zukunft in Freiheit und um eine demokratische Türkei.
Es geht um das große Ganze - und nicht mehr nur um die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CHP. Seit mehreren Tagen gehen in der Türkei Hunderttausende Menschen auf die Straßen. Dabei sind es inzwischen nicht mehr nur Demonstrationen in Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir, die fest in der Hand der CHP sind.
"Natürlich sind die Proteste in den Metropolen größer, aber es gibt auch Demonstrationen in kleineren Städten, selbst in der Heimatstadt von Recep Tayyip Erdoğan", sagt der türkische Soziologe Semih Turan der ARD. Rize, die Stadt an der türkischen Schwarzmeerküste, ging bei der Bürgermeisterwahl 2024 an einen Kandidaten von Erdoğans Partei AKP.
Auch in anatolischen, eher konservativ geprägten Städten wie Konya strömten Menschen in den vergangenen Tagen auf die Straßen. Andere bringen ihren Unmut mit Lärm zum Ausdruck. Abend für Abend öffnen wütende Menschen ihre Fenster und schlagen mit Kochlöffeln auf Töpfe. Andere schalten aus Protest die Lichter ihrer Wohnungen an und aus, wieder andere hupen.
Große Themen: Demokratie, Zukunft, Freiheit
Unter den Demonstranten sind viele junge Menschen. Sie wünschen sich mehr Demokratie, eine stärkere Wirtschaft, eine bessere Zukunft, mehr Freiheit. Ein junger Mann fasst es bei einer Demonstration im Istanbuler Maçka-Park so zusammen: "Wir haben so viele Probleme: Finden wir Arbeit? Verdienen wir Geld? Gibt es eine Zukunft für mich? Kann ich eine Familie gründen? Kann ich frei sein?"
Eine Studentin sagt, sie kämpfe für mehr Gerechtigkeit: "Wir sind so müde und erschöpft. Die Menschen gehen auf die Straßen, weil sie das nicht mehr aushalten."
"Generelle Hoffnungslosigkeit"
Soziologe Turan beobachtet, dass sich nicht nur Studentinnen und Studenten den Demonstrationen anschließen, "sondern auch junge Menschen, die sich bisher nicht besonders für Politik interessiert haben". Unter den Demonstranten seien auch junge Arbeiter und Angestellte. "Die Wut explodiert", sagt Turan.
Als Grund nennt er eine allgemeine Unzufriedenheit und generelle Hoffnungslosigkeit. Laut einer Umfrage des Instituts Habitat aus dem Jahr 2023 möchte fast die Hälfte der Türkinnen und Türken zwischen 18 und 29 Jahren ins Ausland.
Weitere Großdemo geplant
Bisher nehmen die Dynamik und die Zahl der Teilnehmer zu. Obwohl gerade der Fastenmonat Ramadan ist, sind die Protestierenden nicht müde. Vielmehr wird der Protest teils sogar an den Fastenmonat angepasst - am Mittwochabend zum Beispiel gab es ein großes gemeinsames Fastenbrechen vor dem Istanbuler Rathaus.
Am Wochenende ist in Istanbul eine weitere Großdemonstration geplant. Erwartet werden mehrere Hunderttausend Menschen, auch aus anderen Landesteilen.
"Es geht um die Demokratie"
Vergleiche mit den Gezi-Park-Protesten, die sich 2013 an einem geplanten Bauprojekt am Istanbuler Taksim-Platz entzündeten und dann in Kritik an der Regierung umschlugen, würden nicht passen, sagt Turan.
Heute sei die Ausgangslage eine andere: Es handle sich seit Beginn der Proteste um eine generelle Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan. Das sieht auch eine junge Frau aus dem Maçka-Park so: Das habe nicht mehr nur mit den jüngsten Vorfällen, also der Verhaftung von Oberbürgermeister İmamoğlu, zu tun. "Wir, die wir um die 20 Jahre alt sind, wir haben noch nie eine andere Regierung gesehen."
Und ein Mann fügt hinzu: "Hier sind Menschen von verschiedenen Parteien, mit unterschiedlichen Ansichten, aber wir protestieren alle zusammen gegen die Ungerechtigkeit. Der eigentliche Anlass ist İmamoğlu, aber es geht auch um die Demokratie."
Sollte es gelingen, die unterschiedlichen Kräfte zu vereinen, könnte der Druck auf Erdoğan weiter wachsen. Dafür wäre aber auch ein Zusammenschluss der Opposition notwendig, meint Turan.