Krieg in der Ukraine Russlands Nachbarschaft hat Angst
Mit Bangen schauen die Menschen in Russlands Nachbarstaaten auf die Ukraine: Die Furcht, der Kreml könnte auch bei ihnen eingreifen, ist groß. Zugleich werden sie zum Zufluchtsort für viele Menschen auch aus Russland.
"Putin tötet Ukrainer. Wer ist als nächstes dran?" - steht auf dem Plakat eines jungen Demonstranten in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Er spricht damit die Sorge vieler Menschen in der Nachbarschaft Russlands aus. Viele Aussagen und Handlungen von Kremlchef Wladimir Putin lassen dies befürchten. Auch die Souveränität Kasachstans etwa hat Putin schon infrage gestellt. Dort wie in anderen Staaten gibt es Russischsprachige und Besitzer russischer Pässe, die Putin vorgibt schützen zu wollen.
Die Staaten der Östlichen Partnerschaft, die Partnerschaft zu Belarus ist seit Juni 2021 ausgesetzt.
Als in Kasachstan Anfang des Jahres Unruhen ausbrachen, demonstrierte Putin Handlungsfähigkeit, indem er Sicherheitskräfte dorthin schickte - dies im Rahmen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit. Dessen Mitgliedsstaat Armenien hatte im Jahr zuvor vergebens auf dessen Beistand gehofft. Auch Kirgistan hatte bei Unruhen im Jahr 2010 den gewünschten Beistand nicht erhalten. Das verstärkte in den betroffenen Ländern die Ansicht, dass Russland Vereinbarungen und Organisationen zuvorderst zur Durchsetzung eigener Ziele nutzt.
Im Krieg gegen Georgien etwa okkupierten russische Truppen 2008 die abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien, von wo sie seither militärische Kontrolle über das gesamte Land ausüben können. 2013 setzte Putin Armenien so sehr unter Druck, dass der damalige Präsident Sersch Sargsjan das fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU ablehnte - ebenso wie der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wenige Wochen später, was zu den Maidan-Unruhen führte.
Wankelmut in Tiflis
Auf die russische Invasion in der Ukraine reagierten die meisten Regierungen in der Region verhalten, sie vermieden direkte Kritik an Russland. Dies spiegelt sich im Abstimmungsverhalten zur UN-Resolution über die Verurteilung Russlands in der UN-Vollversammlung. Belarus stimmte mit Russland dagegen. Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan enthielten sich. Aserbaidschan, Usbekistan und Turkmenistan nahmen nicht teil. Nur Moldau und Georgien stimmten dafür.
Die georgische Regierung allerdings zeigt sich wankelmütig. Wie die Ukraine und Moldau stellte auch sie nun den Antrag auf Mitgliedschaft in der EU. Doch zum Unmut vieler Oppositioneller vermied es die Regierungspartei "Georgischer Traum" in einer Resolution des Parlaments, Russland zu verurteilen. Regierungschef Irakli Gharibaschwili schloss eine Teilnahme Georgiens an den Sanktionen gegen Russland aus. Außerdem wurde mehrfach russischen Oppositionellen und aktuell dem russischen Journalisten Michail Fischman vom unabhängigen Sender Doschd die Einreise nach Georgien verwehrt - ohne Angabe von Gründen.
Hier zeigt sich das Druckpotenzial Russlands. Es besteht nicht nur aus den Truppen in den okkupierten Gebieten, sondern auch aus wirtschaftlichen Verflechtungen: Georgische Unternehmen im Infrastrukturbereich von Telekommunikation bis Wasserversorgung sind in russischer Hand; Russland ist nach wie vor wichtiger Absatzmarkt für georgischen Wein und andere Lebensmittel.
Russische Truppenpräsenz als Druckmittel
Als problematisch könnte sich erweisen, dass der Nachbar Aserbaidschan als größter Gaslieferant Georgiens kurz vor Kriegsbeginn eine strategische Allianz mit Russland einging. Die Vereinbarung zwischen Putin und Amtskollege Ilham Alijew enthält auch eine Aussage, wonach beide Seiten keine "wirtschaftlichen Aktivitäten durchführen, die den Interessen der anderen Partei direkt oder indirekt schaden." Dies könnte vor allem auf Gaslieferungen Aserbaidschans nach Europa gemünzt sein. Kurz davor noch hatte EU-Energiekommissarin Kadri Simson in Baku für eine Ausweitung dieser geworben, um unabhängiger von Russland zu werden.
Dass sich Aserbaidschan darauf einlässt, liegt unter anderem am ersten Punkt des Abkommens: Darin ist die Rede von der Anerkennung der territorialen Integrität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen Seite. Seit Ende 2020 stehen russische Truppen auch in Aserbaidschan. Als "Friedenstruppen" überwachen sie den Waffenstillstand, den Aserbaidschan unter Vermittlung Moskaus mit Armenien im Krieg um das Gebiet Bergkarabach vereinbart hatte.
Für die Armenier sind die russischen Truppen Überlebensgarantie im Konflikt mit Aserbaidschan und dessen Verbündeten Türkei. Auch angesichts massiver wirtschaftlicher Abhängigkeit von Russland ist der außenpolitische Handlungsspielraum der Südkaukasus-Republik minimal. Das bietet Erklärung für Entscheidungen der eigentlich demokratisch orientierten Regierung Armeniens wie jene, im Europarat gegen die Suspendierung Russlands zu stimmen.
Zuflucht im Kaukasus
Seit Jahren beklagen Menschen in der Region, sich wie Bauern in einem Schachspiel Russlands vorzukommen. Gegen dieses Gefühl des Ausgeliefertseins kommt die weit verbreitete russische Propaganda vom Beschützer vor der USA und der NATO nicht überall an. So gab es Solidaritätsbekundungen mit den Menschen in der Ukraine auch in Ländern wie Kirgistan, Kasachstan, Aserbaidschan und Armenien. In Georgien ziehen jeden Tag Tausende aus Protest vor das Parlament. Dort werden auch Hilfsgüter gesammelt.
Angst vor russischen Zuwanderern
Georgien ist zugleich ein Zufluchtsort für immer mehr Menschen aus Belarus, der Ukraine und nun auch Russland. Die Regierung in Tiflis sprach von 20.000 bis 25.000 Einreisen aus dem nördlichen Nachbarland, ohne allerdings einen Zeitraum dafür anzugeben. Wirtschaftsminister Levan Davitaschwili versuchte die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, nachdem Oppositionelle vor "Horden von Russen, die vor den Sanktionen fliehen" warnten. In einem Aufruf bei Facebook hieß es, russische Staatsbürger seien in Georgien nicht willkommen. "Wir wollen nicht, dass Putin Euch hierher folgt, um 'Eure Rechte' zu schützen." In einem anderen Aufruf ist von Misstrauen gegenüber allen Menschen aus Russland die Rede.
Die Oppositionspolitikerin Helen Khoschtaria wurde festgenommen, als sie russisches Ketchup auf die Treppen der Staatskanzlei schüttete. Ex-Verteidigungsministerin Tinatin Khidascheli warf den Exilsuchenden vor, davonzulaufen, statt in Russland gegen Putin zu kämpfen.
Eine Gruppe Winzer will als Sanktion gegen Russland keinen Wein mehr dorthin verkaufen. Eine Bank fordert von russischen Kunden, die Invasion der Ukraine zu verurteilen. Dass sich in die Kampagnen gegen Putin und die eigene Regierung nationalistische und rassistische Töne mischen, sorgt in den sozialen Medien für heftige Debatten - zu denen auch Aufrufe zur Mäßigung und Solidarität mit den russischen Dissidenten gehören.
Anspannung und Unsicherheit
Auch in Kasachstan, Armenien und Istanbul kommen Tausende Menschen aus Russland an, die die wenigen noch verbliebenen Flugrouten nutzen. Dort treffen sie auf weniger Ressentiment als in Georgien, aber auch dort erinnert man sich an arrogantes und rassistisches Verhalten gegenüber Menschen aus dem Kaukasus und Zentralasien, die in Russland zumeist im Bau und in der Service-Industrie arbeiten. Sie werden nun angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs weniger Geld an ihre Familien schicken können, wenn sie nicht gar ihre Jobs in Russland verlieren.
Auch der Wertverlust des Rubel wird sich in den Nachbarländern Russlands bemerkbar machen, die ohnehin von der Pandemie geschwächt sind. Dies wird die sozialen Spannungen in der Region verschärfen.
Da Putin nun massive Kräfte in den Krieg in der Ukraine steckt, wachsen allerdings auch Hoffnungen, dass sich Russland übernehmen könnte und in der Region schwächer wird. Schon jetzt nehmen, abseits der internationalen Aufmerksamkeit, die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder zu. Hier muss sich zeigen, wie einsatzfähig die russischen Truppen vor Ort künftig sind. Vereinzelt gibt es auch in Georgien Aufrufe, die von Russland okkupierten Gebiete wieder einzunehmen. Für die an Krieg und politische Unruhen gewöhnten Menschen in der Region ist dies eine neue Phase massiver Anspannung und Unsicherheit. Noch mehr Menschen als in den vergangenen Jahren könnten sich zur Auswanderung entschließen.