Europawahl 2024
Wer wählte was warum? So viel Denkzettel steckt im Wahlergebnis
Wieso zieht die AfD so viele Wähler an? Warum laufen den Grünen die Jungen weg? Und welche Rolle spielten Scholz und Merz, die auf keinem Wahlzettel standen? Eine Analyse auf Basis der Daten von infratest dimap.
Es klingt selbstverständlich, aber man muss es trotzdem erwähnen: Gewählt wurde das Europaparlament, die Fraktionen dort heißen zum Beispiel EVP, S&D oder Renew. Doch auf den Stimmzetteln standen nationale Parteien. 55 Prozent der wahlberechtigten Deutschen sagen denn auch, für sie sei eher die Bundespolitik ausschlaggebend bei ihrer Wahlentscheidung gewesen, nur 38 Prozent nennen die Europapolitik.
Etwa die Hälfte gibt sogar an, die Europawahl sei eine gute Gelegenheit gewesen, der Bundesregierung einen Denkzettel zu verpassen. So ist es naheliegend, dass die Analyse des Wahlergebnisses auch einiges mit dem Blick auf die Arbeit der Ampel-Parteien im Bund zu tun hat.
Große Unzufriedenheit mit Bundesregierung
Nur 22 Prozent der Deutschen sind mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden. Ein derart niedriger Wert wurde bei keiner der Europa- oder Bundestagswahlen der vergangenen elf Jahre für eine amtierende Bundesregierung gemessen.
Um den von Teilen der Wählenden so gemeinten Denkzettel einordnen zu können, muss man als Vergleichsmaßstab zwei verschiedene Wahlen heranziehen: Die Europawahl von 2019 und vor allem die Bundestagswahl von 2021.
SPD verliert viele an die "Nichtwähler"
Die SPD hatte schon bei der vorangegangenen Europawahl mit 15,8 Prozent ihr bislang schlechtestes Ergebnis erreicht, diesmal liegt sie weitere rund zwei Prozentpunkte darunter. Doch besonders deutlich wird der Denkzettel, wenn man die Bundestagswahl zum Vergleich heranzieht, wo die SPD noch 25,7 Prozent erreicht hatte.
Laut ersten Zahlen zur Wählerwanderung hat die SPD im Vergleich zur Bundestagswahl Wähler an alle anderen Parteien verloren, besonders stark aber ins Lager derer, die diesmal gar nicht gewählt haben. Ein Indiz dafür, dass viele von der SPD enttäuscht sind - ohne sich bei anderen Parteien besser aufgehoben zu fühlen. Das zeigt sich auch daran, dass drei Viertel der Wahlberechtigten sagen, die SPD habe in der Regierung viel versprochen, bei den Menschen komme aber nur wenig an.
Hinter Scholz kommen nur Weidel und Chrupalla
Und die SPD hat ein "Scholz-Problem". Nur 23 Prozent finden, Olaf Scholz sei ein guter Bundeskanzler. Selbst von den SPD-Anhängern denken das nur 64 Prozent. Und auf der Liste der wichtigsten deutschen Politiker, die infratest dimap im Auftrag der ARD regelmäßig abfragt, steht er derzeit mit seinen Zustimmungswerten auf Platz 9 von 11 - nur mit der Arbeit der AfD-Chefs Alice Weidel und Tino Chrupalla sind die Deutschen in noch größerem Maß unzufrieden.
Auf der Haben-Seite kann die SPD hier verbuchen, dass auch die unangefochtene Nummer 1 der Liste ein Sozialdemokrat ist - und dass der ein Amt hat, dem die Wähler derzeit besonders große Bedeutung zumessen: Mit der Arbeit von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sind 59 Prozent zufrieden.
Kein Vergleich zum Wert von 25 Prozent für Scholz in dieser Liste. Der stand zwar gar nicht auf dem Wahlzettel, doch die SPD hatte bewusst Wahlplakate aufhängen lassen, auf denen er groß neben Spitzenkandidatin Katarina Barley zu sehen war. Für den Misserfolg muss sich der Kanzler also auch mitverantwortlich fühlen.
Ihm wird von den Deutschen außerdem seine Führungsschwäche angekreidet. 85 Prozent (bei SPD-Anhängern sind es ähnlich viele) sagen, Scholz müsste klarer die Richtung in der Bundesregierung vorgeben. An den viel zitierten Scholz-Satz "Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch" glauben nur noch wenige Wahlberechtigte.
Rekordergebnis der Grünen fast halbiert
Mit einem Rückgang des Stimmenanteils um mehr als acht Prozentpunkte sind die Grünen großer Verlierer der Wahl - weniger im Vergleich zur Bundestagswahl, vor allem aber im Vergleich zur Europawahl von 2019. Damals waren die Grünen mit einem Rekordergebnis von 20,5 zweitstärkste Kraft hinter der Union geworden.
Doch seitdem sind sie in eine beim Wähler inzwischen sehr unbeliebte Ampelkoalition eingetreten. Und eines ihrer Kernthemen hat für viele an Bedeutung verloren.
Grüne beim Thema Klima nicht mehr konkurrenzlos
Nur noch für 14 Prozent aller Wahlberechtigten ist Klima- und Umweltschutz das wahlentscheidende Thema - neun Punkte weniger als 2019. Damals war es noch auf Platz 1 der wichtigsten Themen. Inzwischen spielen Friedenssicherung, soziale Sicherheit und Zuwanderung für die Deutschen eine größere Rolle - Themen, bei denen den Grünen weniger Kompetenzen zugeschrieben werden, als anderen Parteien.
Doch selbst bei der Klimapolitik führen die Grünen nicht mehr so unangefochten. Zwar denken immer noch 33 Prozent, dass die Grünen die beste Klima- und Umweltpolitik machen. Das sind aber 23 Punkte weniger als noch 2019. Und inzwischen sagen 24 Prozent (10 Punkte mehr als 2019), dass sie dies keiner Partei zutrauen. Ein Indiz dafür, dass viele umweltbewusste Wähler offenbar enttäuscht sind von der Klimapolitik, die die Grünen in der Ampel machen. Ähnlich wie die SPD haben auch die Grünen besonders viele Wähler ins Lager der Nichtwähler verloren.
Grüne verlieren bei den Jungen, AfD gewinnt hinzu
Und überproportional stark verloren die Grünen bei den jungen Wählern unter 25 - einer Altersgruppe, in der sie viele Jahre lang besonders stark waren. Jetzt kommen sie hier nur noch auf elf Prozent - nur noch etwa ein Drittel dessen, was sie in dieser Gruppe 2019 geholt hatten. Dazu passt, dass nur noch 38 Prozent der Wahlberechtigten sagen, die Grünen kümmern sich am stärksten um die Folgen der Politik für die jüngeren Generationen. Immer noch viel, aber eben 18 Prozentpunkte weniger als vor fünf Jahren.
Wohin die Jungen offenbar gewandert sind, mag viele überraschen und wird in den kommenden Tagen sicher noch Thema sein. Denn besonders stark hinzugewonnen in dieser Altersgruppe hat die AfD. Ebenfalls auffallend stark in dieser Altersgruppe sind die kleineren Parteien, für die es aus statistischen Gründen schwer ist, genauere aussagekräftige Daten zu erheben. Das Phänomen, dass junge Wähler verstärkt kleinere Parteien mit zum Teil sehr speziellen Programmangeboten wählen, hat sich aber auch bei früheren Europawahlen schon gezeigt.
FDP auch für Verhalten in der Ampel kritisiert
Damit zur dritten und kleinsten Ampel-Partei: Die FDP, die bei der Bundestagswahl noch 11,4 Prozent erreicht hatte und jetzt nicht mal mehr die Hälfte schafft. Sie wird von den Wählenden offenbar doppelt für die schlechte Arbeit der Bundesregierung in Haftung genommen: Einerseits schlichtweg dafür, dass sie Mitglied der unbeliebten Ampelkoalition ist, andererseits aber auch für ihr Verhalten innerhalb der Ampel. 58 Prozent ärgert, dass die FDP in der Ampel immer wieder politische Entscheidungen blockiert.
Bei ihren Kernthemen Steuer- und Wirtschaftspolitik werden ihr zwar weiter vergleichsweise hohe Kompetenzen zugeschrieben. Doch auch ihr Markenkern bröckelt. Sagten vor zehn Jahren noch 39 Prozent, die FDP sei die einzige Partei, die klar für die Marktwirtschaft eintritt, sind es inzwischen nur noch 33 Prozent - mit kontinuierlich fallender Tendenz.
Union wird nicht wirklich als Alternative gesehen
Damit zu den Wahlgewinnern und zunächst zur Union, bei der das mit dem Gewinn aber relativ ausfällt. Zwar kann sie sowohl im Vergleich zur Europawahl als auch zur Bundestagwahl zulegen und bleibt wie bei den vorangegangenen Europawahlen klar stärkste Kraft. Gemessen an der Schwäche der Ampel-Parteien fallen die Zugewinne für CDU und CSU aber eher bescheiden aus.
Eine wichtige Erklärungen dafür findet sich hier: Nur 39 Prozent der Wahlberechtigten glauben, dass eine von der Union geführte Bundesregierung die Probleme besser lösen könnte als die Ampel, 49 Prozent glauben das nicht.
Das "Merz-Problem" der Union
Und so wie die SPD ein "Scholz-Problem" hat, hat die Union ein "Merz-Problem". Nur 20 Prozent glauben, dass Friedrich Merz ein guter Bundeskanzler wäre - ein Wert, der noch unter den 23 Prozent von Scholz liegt. Und selbst von denjenigen, die CDU oder CSU gewählt haben, glauben nur 45 Prozent, dass Merz ein guter Bundeskanzler wäre.
AfD profitiert von Unzufriedenheit
Die große Gewinnerin der Wahl ist die AfD. Sie kann um etwa fünf Prozentpunkte gegenüber der vorigen Europawahl zulegen und wird zweitstärkste Kraft. Die AfD bleibt in starkem Maße eine Partei der Unzufriedenen und profitiert dabei offenbar stark davon, dass sich die Sorgen der Menschen gewissermaßen zu ihren Gunsten verschoben haben.
Themen, auf die AfD im Wahlkampf und auch in der täglichen Politik gezielt setzt, spielen für die Wahlberechtigten heute eine deutlich größere Rolle als 2019: So sagen etwa 53 Prozent, es mache ihnen Sorge, dass zu viele Fremde nach Deutschland kommen - 19 Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Und 74 haben Angst davor, dass die Kriminalität zunimmt - 22 Punkte mehr.
Fast die Hälfte finden Haltung der AfD zum Islam gut
Der Kurs der AfD bei diesen Themenfeldern kommt bei einer wachsenden Zahl von Wählern an. Daran haben weder das Bekanntwerden des Potsdamer "Remigrations"-Treffen von AfD-Politikern mit Rechtsextremen etwas geändert, noch die Skandale um die beiden AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron (bei denen sich schließlich sogar die AfD selbst gezwungen sah, auf Distanz zu gehen), noch die deutlichen Warnungen aus der Wirtschaft.
46 Prozent der Deutschen finden es gut, dass die AfD den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen begrenzen möchte - deutlich mehr als 2019. Ähnlich viele begrüßen es, dass sie sagt, sie wolle den Einfluss des Islam verringern.
Bei der Europawahl verfestigt sich das Bild, das sich schon bei vorangegangen Wahlen gezeigt hat. Von einer reinen Protestpartei hat sich die AfD zu einer Partei entwickelt, der von einem nicht unerheblichen Teil der Wahlberechtigten Kompetenzen zur Lösung von Problemen zugeschrieben wird - vor allem beim für viele wichtigen Thema Zuwanderung, wo sie inzwischen vor SPD und Grünen liegt.
AfD-Wähler halten die Partei nicht für rechtsextrem
Dass die AfD nach Einschätzung des Verfassungsschutzes in Teilen zweifelsfrei rechtsextrem ist, schreckt ihre Wähler nicht ab. Zwar schätzen auch 71 Prozent der Wahlberechtigten die AfD als rechtsextrem ein. Von denjenigen, die die AfD tatsächlich gewählt haben, sagen das aber gerade einmal fünf Prozent. Und 82 Prozent der AfD-Anhänger sagen: Es ist mir egal, dass die AfD in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht.
Wähler hinzugewonnen hat die AfD übrigens aus fast allen Lagern - selbst aus dem der Grünen. In größerem Umfang Wähler verloren hat sie lediglich an das BSW und ins Lager der Nichtwähler.
BSW gewinnt eher von der SPD als von der AfD
Im Vorfeld der Wahl wurde viel darüber diskutiert, ob das "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) ein Auffangbecken für all diejenigen sein könnte, die zwar zum Protestwählen neigen, denen der Kurs der AfD inzwischen aber doch eindeutig zu rechts ist. Indizien dafür gibt es auch in den Daten von infratest dimap, belegen lässt sich das aber nicht.
Bei beiden Parteien macht ein gleich hoher Anteil der Wähler das Kreuz nicht aus Überzeugung, sondern aus Enttäuschung über andere Parteien. Doch in der Wählerwanderung zeigt sich, dass das BSW eher bisherige Wähler von SPD und Linken anzieht als solche von der AfD.
Wo die noch sehr neue Partei - die aus dem Stand rund sechs Prozent holte - inhaltlich steht, wird sich noch zeigen müssen. Es kristallisiert sich aber schon heraus, womit das BSW bei dieser Europawahl besonders punkten konnte: Mit der Verquickung von sozialen Themen mit einer Begrenzung der Zuwanderung und mit der Person, die sich hinter dem Kürzel versteckt: 78 Prozent der BSW-Wählenden sagen, ohne Sahra Wagenknecht würden sie die Partei nicht wählen.