Debatte um Grundsicherung Berufstätige haben mehr Geld als Bürgergeldempfänger
Immer wieder behaupten Politiker, dass Bürgergeldempfänger ein höheres Einkommen hätten als Erwerbsarbeiter. Doch das ist falsch. Arbeit lohnt sich immer, wenn Berufstätige ergänzende Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
Seit Einführung des Bürgergelds und der Erhöhung der Regelsätze behaupten Politiker immer wieder, dass Bürgergeldempfangende mehr Geld zur Verfügung hätten als geringverdienende Erwerbsarbeitende. Die Diskussion um die Höhe der Bürgergeldbezüge ist nicht neu, nimmt mit Blick auf die vorgezogene Bundestagswahl derzeit jedoch wieder an Fahrt auf.
Zuletzt hat CSU-Chef Markus Söder in der "Caren Miosga"-Sendung gesagt: "Jemand mit zwei Kindern bekommt [mit Bürgergeld] am Ende mehr Brutto durchschnittlich als ein Bürokaufmann, Busfahrer, Arzthelferin oder Bäcker." Auf Nachfrage des ARD-faktenfinders schreibt die CSU: "Das Bürgergeld ist zu hoch, zu teuer und führt zu Fehlentwicklungen. Das Lohnabstandsgebot wird vielfach nicht eingehalten. Es sind Konstellationen möglich, die Arbeit unrentabel machen."
Auch die FDP betont immer wieder, dass das Bürgergeld "falsche Anreize" setze. Wer einer Arbeit nachgehe, müsse am Ende auch mehr Geld in der Tasche haben, heißt es von unterschiedlichen Seiten.
Arbeit bringt mehr Einkommen als Bürgergeld
Doch haben Bürgergeldempfangende tatsächlich mehr Geld in der Tasche als Erwerbsarbeitende? Das ist "schlicht falsch", sagt Andreas Peichl, Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen. Eine Studie des ifo Instituts aus diesem Jahr kommt zu dem Schluss: "Arbeit führt in Deutschland immer zu höheren Einkommen als Nichtstun."
Ab wann die Differenz zwischen Bürgergeld und Erwerbseinkommen als "unrentabel" empfunden wird, ist subjektiv. In der ifo-Studie heißt es dazu, dass "trotz der deutlichen Anhebung der Regelsätze im Bürgergeld weiterhin ein spürbarer Lohnabstand besteht". Allerdings gebe es teilweise "äußerst geringe Anreize zur Ausweitung bestehender Erwerbstätigkeit".
Auch Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftichen Instituts (WSI) oder des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW Kiel) kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen.
Aussage "falsch und unterkomplex"
"Das System ist so ausgestaltet, dass derjenige, der arbeitet, über ein höheres Einkommen verfügt", sagt auch Jens Boysen-Hogrefe, stellvertretender Leiter der Konjunkturabteilung des IfW Kiel gegenüber dem ARD-faktenfinder. Maßnahmen, wie Freibeträge bei der Anrechnung auf Einkommen oder aufstockende Leistungen würden in aller Regel dafür sorgen.
Wenn die Erwerbsarbeit schlecht bezahlt sei, habe man Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen, sogenannte Transferleistungen, wie etwa Wohngeld oder Kinderzuschläge, erläutert Helene Steinhaus, Gründerin und Geschäftsführerin des Vereins Sanktionsfrei gegenüber dem ARD-faktenfinder. Deshalb sind derartige Behauptungen "falsch und unterkomplex". Das wüssten die Politiker Steinhaus zufolge auch - und verbreiteten sie dennoch absichtlich.
Rechnung nicht nachvollziehbar
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder vergleicht in seiner Aussage eine berufstätige Person mit zwei Kindern mit einer Bürgergeld beziehenden Familie mit zwei Kindern. Nicht klar wird, ob bei seinem Beispiel eine Person mit zwei Kindern alleinerziehend im Haushalt lebt oder ob es sich um ein Paar mit zwei Kindern handelt, von denen eine Person arbeitet. Um die Familien miteinander vergleichen zu können, ist jedoch nur das zweite Szenario sinnvoll.
Auf Nachfrage erhält der ARD-faktenfinder die Datengrundlage, auf der Söders Aussage beruht - ein Screenshot aus einem "Focus"-Artikel, wie eine Bilder-Rückwärtssuche zeigt. Die Berechnung bezieht sich auf den Mindestlohn, die Berufsgruppen, die Söder genannt hat, erhalten jedoch andere Gehälter. Die Rechnung ist aus Sicht von Experten nicht nachvollziehbar. Steinhaus hält die Berechnung als Grundlage für Söders Aussagen für grundsätzlich falsch und "mindestens irreführend".
Die CSU schickt auf Nachfrage, auf welcher Grundlage Söder seine Aussage getrofft hat, einen Screenshot mit einer Beispielrechnung aus einem "Focus"-Artikel. Diese wirft jedoch Fragen auf.
Laut Boysen-Hogrefe sind gleich mehrere Aspekte nicht stimmig. Es sei beispielsweise aufgrund des Splittingvorteils nicht erklärbar, wie ein Paar mit zwei Kindern ein geringeres Nettoeinkommen haben könne als ein Single. Hinzu käme, dass zentrale Ansprüche weggelassen würden. "Das Paar hat bei dem Einkommen Anspruch auf viel viel mehr Sozialleistungen als das angegebene Kindergeld, die hier allerdings komplett fehlen. Diese würden die Diskrepanz vermutlich nicht nur ausgleichen, sondern dazu führen, dass am Ende mehr übrig bleibt."
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat dies für den ARD-faktenfinder nachgerechnet und kommt zu dem Ergebnis: "Dieser Haushalt könnte auch mit Wohngeld und Kinderzuschlag nicht seinen Grundbedarf decken und bleibt somit bürgergeldberechtigt." Bei Inanspruchnahme von aufstockendem Bürgergeld würde dieser Haushalt vermutlich weitere 1.550 Euro monatlich erhalten.
Selbst der "Focus" weist in dem Artikel darauf hin, dass es viele weitere Vergünstigungen gebe, die sie "in einer pauschalen Rechnung schwer abbilden können". Weiter heißt es: "Da das Bürgergeld das Existenzminimum abbilden soll, würde die Differenz zwischen Arbeitseinkommen und Bürgergeldanspruch durch eben ein reduziertes Bürgergeld ausgeglichen. Da das Arbeitseinkommen nicht voll angerechnet wird, bleibt der Familie am Ende sogar mehr, als wenn niemand dort arbeiten würde."
Sowohl den Kontext als auch die Informationen lässt die CSU jedoch in der Mail an den ARD-faktenfinder weg.
Allgemeingültige Aussagen nur bedingt möglich
In Rücksprache mit mehreren Experten hat der ARD-faktenfinder das von Söder angebrachte Beispiel exemplarisch durchgerechnet. Die Berechnung des fiktiven Beispiels bildet einen Durchschnitt ab, in realen Haushalten können andere Ergebnisse herauskommen. Denn "häufig gibt es noch so viele ganz individuelle Faktoren, die die finanziellen Mittel einer Familie (oder Bedarfsgemeinschaft) bestimmen, dass man das nie richtig darstellen kann", wie die Bundesagentur für Arbeit dem ARD-faktenfinder schreibt.
Als Ausgangslage zur Ermittlung des Gehalts dienen die vom CSU-Chef genannten Berufe: Bürokaufmann, Busfahrer, Bäcker und Medizinischer Fachangestellter. Die Durchschnittsgehälter der Berufe liegen laut Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit Brutto monatlich bei 3.134 Euro - Netto entsprechen das für die angegebene Konstellation von einem Alleinverdienenden einer 4-Köpfigen Familie etwa 2.416 Euro.
Bürokaufmann | Busfahrer | Bäcker | Medizinischer Fachangestellter | Gemitteltes Gehalt aller Berufe |
---|---|---|---|---|
3.627€ Brutto | 3.289€ Brutto | 2.721€ Brutto | 2.899€ Brutto | 3.134€ Brutto |
2.722€ Netto | 2.514€ Netto | 2.146€ Netto | 2.264€ Netto | 2.416€ Netto |
Quelle: Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit
Pro Kind erhält die Familie 250 Euro Kindergeld, so dass sie auf Einnahmen in Höhe von 2.916 Euro kommt. Mit diesem Familieneinkommen hat die Familie Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen.
Laut ifo Institut liegt eine mittlere Miethöhe (Mietstufe 3), wie zum Beispiel für Dresden, für vier Personen bei 870 Euro inkl. Heizkosten - ohne Heizkosten bei 730 Euro. Das errechnete Wohngeld liegt für dieser Beispielfamilie bei 435 Euro, der Kinderzuschlag bei 399 Euro. Dadurch steigen die Einnahmen der Familie auf 3.750 Euro.
Bürgergeld-Anspruch einer Familie mit zwei Kindern
Der durchschnittliche Anspruch im Jahr 2024 für eine Familie mit zwei Kindern, in der beide Eltern Bürgergeld beziehen, setzt sich wie folgt zusammen: Volljährige Partner erhalten je 506 Euro. Da Söder nicht angibt, wie alt die beiden Kinder sind, kann nur mit einem durchschnittlichen Wert für Kinder unter 18 Jahre gerechnet werden - der liegt bei 397 Euro je Kind. Hinzu kommen je Kind ein Kindersofortzuschlag von 20 Euro. Das ergibt einen Anspruch auf Bürgergeld von 1.846 Euro. Das Kindergeld wird mit dem Bürgergeld verrechnet, weshalb es nicht an Bürgergeldbeziehende fließt.
Hinzu kommen für diese Bedarfsgemeinschaft noch die Wohn- und Heizkosten, die vom Staat übernommen werden, solange diese angemessen sind. Liegen die Mietkosten über den vom Arbeitsamt ausgewiesenen Richtwerten, müssen die Kosten gesenkt werden. Was als angemessen gilt, hängt stark von der Region und dem örtlichen Mietspiegel ab.
Laut der Bundesagentur für Arbeit lagen die tatsächlichen Kosten der Unterkunft insgesamt im aktuellsten Monatsbericht von Juli 2024 bei 881,52 Euro - das Amt hat durchschnittlich 863 Euro anerkannt. 4-Personen Haushalte wohnen dabei im Schnitt in Wohnungen, die 68,5 Quadratmeter groß sind.
Insgesamt käme die Beispielfamilie mit Berücksichtigung der durchschnittlichen Mietkosten des ifo-Instituts auf Einnahmen in Höhe von 2.716 Euro, wovon die Miete jedoch noch abgeht.
Bürgergeldempfänger | Arbeitnehmer | Differenz | |
---|---|---|---|
Regelbedarf/Nettogehalt | 1012 € | 2416 € | |
Kind U18 | 794 € | 500 € | |
Kosten der Unterkunft | 870 € | ||
Transferleistung: Wohngeld |
435 € | ||
Transferleistung: Kinderzuschlag |
399 € | ||
Einnahmen | 2676 € | 3750 € | 1074 € |
Haushalte mit Alleinverdienenden in den von Söder genannten Berufen haben demnach um die 1.000 Euro höhere Einnahmen - wenn sie die ihnen zustehenden ergänzenden Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Werden diese nicht in Anspruch genommen, kann das finanziell erhebliche Unterschiede machen.
So ergibt sich nach Abzug der Wohnkosten ein Unterschied von über 800 Euro - ohne die Transferleistungen käme die Familie nach Zahlung der Miete nur auf 200 Euro mehr als Bürgergeldbeziehende. Ist die Miete höher als die errechnete Durchschnittsmiete kann sich auch das natürlich auf das verfügbare Einkommen auswirken - allerdings würde das Wohngeld in diesem Fall auch steigen.
Bürgergeldempfänger | Arbeitnehmer | Differenz | |
---|---|---|---|
Verfügbares Einkommen ohne Transferleistung | 1846 € | 2046 € | 200€ |
Verfügbares Einkommen mit Transferleistung | 1846 € | 2880 € | 1034 € |
Inanspruchnahme der Transferleistung gering
Längst nicht alle, die berechtigt sind, nehmen diese Leistungen in Anspruch. Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB, schreibt dem ARD-faktenfinder: "Laut empirischen Schätzungen ist bei der Grundsicherung nach SGB II, bei Wohngeld und Kinderzuschlag von einer signifikanten Nicht-Inanspruchnahme durch Leistungsberechtige auszugehen (SGB II: ca. 35%-58%)." Dabei seien auch Ansprüche eingeschlossen, die nur sehr gering ausfallen oder nur temporär bestehen.
"Allerdings beruhen diese Schätzungen auf Daten, die vor der Bürgergeldreform, dem Wohngeld-Plus Gesetz und dem zuletzt deutlichen Anstieg der Empfängerzahlen beim Kinderzuschlag erhoben wurden", so Fitzenberger. Zu den Ursachen der Nicht-Inanspruchnahme gebe es wenig Erkenntnisse. Befragungen würden darauf hindeuten, dass "ein Bündel an unterschiedlichen Ursachen existiert", wie etwa administrative Aufwände und Hürden bei der Antragstellung oder Vorbehalte gegenüber dem Leistungssystem.
Durch die Nicht-Inanspruchnahme von ergänzendem Bürgergeld oder Sozialleistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag sowie vorhandenem Vermögen könne es laut IAB zu Konstellationen kommen, in denen Erwerbstätige weniger Geld zur Verfügung hätten.
"Leider wissen viel zu wenige Arbeitnehmer von ihren Ansprüchen auf ergänzende staatliche Zuschüsse und nehmen diese in Anspruch. Genau aus diesem Grund verfangen die Lügen darüber, dass sich Arbeit im Vergleich zum Bürgergeld nicht lohnen würde", schreibt auch ein Sozialarbeiter auf X.
Mehrarbeit lohnt sich nicht immer
Während sich Erwerbsarbeit in der Regel immer lohnt, ist dies bei Mehrarbeit nicht zwangsläufig der Fall, da die Ansprüche auf Transferleistungen geringer werden oder entfallen. Das ifo-Institut spricht von einer "Niedrigeinkommensfalle", denn dadurch können die Anreize, ein höheres Bruttogehalt zu erzielen, gering sein.
Das IfW Kiel kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der Lohnabstand, also der Unterschied zwischen arbeitenden Haushalten und nicht-arbeitenden Haushalten, für manche Szenarien trotz Sozialleistungen sehr niedrig sei. "Es sind eben teilweise sehr, sehr niedrige Werte, die dabei rauskommen. Und das ist schon ein Problem, weil natürlich klar ist, in dem Moment, wo ich arbeiten gehe, verbrauche ich ja sehr viel Zeit, die ich eventuell für was anderes nutzen könnte. Und das dann für ein paar Euro mehr auf sich zu nehmen, ist natürlich nicht wirklich attraktiv", sagt Boysen-Hogrefe.
Diese Differenz könne als wenig empfunden werden, sagt auch Steinhaus von Sanktionsfrei. "Das Problem ist hier allerdings, dass Busfahrer und Arzthelfer zu schlecht bezahlt werden und ergänzende Sozialleistungen beantragen müssen. Nicht, dass die Sozialleistungen zu hoch sind."