Thüringer Landtag Wozu die AfD die Sperrminorität nutzen kann
Im Thüringer Landtag hat die AfD erstmals mehr als ein Drittel der Sitze. Die sogenannte Sperrminorität bedeutet, dass die rechtsextreme Partei einbezogen werden muss. Doch im Blockieren hat sie längst Übung.
Rund um die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hat ein juristischer Fachbegriff Inflation: die Sperrminorität. Minorität bedeutet Minderheit und heißt hier konkret: Schon mit mehr als einem Drittel aller Abgeordneten kann eine Fraktion wichtige Entscheidungen blockieren, also sperren. Nämlich dann, wenn für diese Entscheidung eine Zwei-Drittel-Mehrheit vorgesehen ist.
Mit der Sperrminorität hat auch eine Minderheit Macht - wenn sie nur ausreichend groß ist. In Thüringen hat die AfD diese Grenze erstmals in Deutschland erreicht. Sie stellt nach vorläufigem Wahlergebnis künftig 32 von 88 Sitzen im Landtag - zwei mehr als nötig. In Sachsen verpasste sie die Sperrminorität mit 40 von 120 Sitzen denkbar knapp.
Wahlziel der AfD erreicht
Die Höcke-AfD hat die Sperrminorität früh angepeilt. Schon bei einem Landesparteitag im November 2022, also vor fast zwei Jahren, rief Co-Landeschef Stefan Möller das als Ziel aus. "Dann sind auch ganz andere Einflussnahmen und politische Gestaltungsmöglichkeiten machbar", so Möller damals laut MDR.
Nach der Wahl am Sonntag sagte Möller nun, das "Brandmauergerede" gegenüber der AfD müsse aufhören. Sprich: Die anderen Fraktionen sollen künftig mit der AfD reden und Kompromisse suchen. Und in einigen Fällen werden sie tatsächlich darauf angewiesen sein.
Eine Zwei-Drittel-Mehrheit braucht es sowohl in Thüringen als auch Sachsen für die Änderung der Landesverfassung, die Besetzung des Landesverfassungsgerichts und eine Auflösung des Landtags. In Thüringen kommen zudem noch die Besetzungen weiterer Gremien hinzu.
Verfassungsreform gerade erst durch
Am schwersten wiegt auf den ersten Blick eine Änderung der Verfassung. In Thüringen konnten sich die Minderheitskoalition von Linke, SPD und Grünen nur nach langem Hin und Her mit CDU und FDP noch vor der Wahl auf eine solche einigen. So wurden die Rechte der Kommunen gegenüber dem Land, das Ehrenamt und das Prinzip der Nachhaltigkeit gestärkt. Das Regierungshandeln muss diese Änderungen widerspiegeln.
Eine Verfassungsreform steht in der Regel allerdings nicht in jeder Legislatur an. Die Thüringer Verfassung wurde neben diesem Jahr nur 1997, 2003 und 2004 geändert - die sächsische Verfassung sogar nur einmal: 2013.
In Sachsen wären die Auswirkungen der Sperrminorität wohl größer gewesen, denn dort platzte im Frühjahr eine verabredete Verfassungsreform durch CDU, Grüne und SPD. Unter anderem sollten sogenannte Volksanträge und Volksbegehren erleichtert werden. Diese leichtere Beteiligung der Bürger beziehungsweise mehr direkte Demokratie hatten nun vor allem CDU und BSW auch im Wahlkampf versprochen.
Je instabiler, desto gefährlicher
Die Auflösung des Landtages gehört ebenfalls nicht zum politischen Alltagsgeschäft. Dieser Schritt macht Neuwahlen möglich. Sinnvoll erscheint das nur dann, wenn sich tatsächlich keine dauerhaft stabilen Mehrheiten finden lassen.
Die Erfahrungen damit sind in Thüringen noch recht frisch: Nach dem Rücktritt von FDP-Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich 2020 sollte eine zeitweilige Zusammenarbeit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung mit der oppositionellen CDU die Regierungskrise auflösen.
Für die Wiederwahl von Bodo Ramelow durch Enthaltung der CDU wurde im Gegenzug eine geplante Auflösung verabredet. Dann kam die Corona-Pandemie, eine Verschiebung und schließlich sahen sich einige CDU- und später auch Linken-Abgeordnete nicht mehr an die Vereinbarung gebunden. Zur Auflösung kam es nicht.
Sollten sich CDU, BSW, SPD und Linkspartei nun doch nicht einigen können, wie es künftig im Landtag weitergehen soll, hängt es von Stimmen einzelner AfD-Abgeordneter ab, ob sich der Landtag auflösen kann. Oder eben von Absprachen mit der AfD. Ansonsten bliebe das Chaos bestehen. Die AfD könnte davon profitieren.
Mehrere Gremien auf Zwei-Drittel-Wahlen angewiesen
Eine Thüringer Besonderheit sind die Zwei-Drittel-Mehrheiten im Zusammenhang mit drei weiteren Gremien: dem Richter- und dem Staatsanwaltswahlausschuss und der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK). Hier konnte die AfD allerdings schon vorher Einfluss nehmen.
Der Richterwahlausschuss etwa entscheidet vor allem darüber, ob ein Richter oder eine Richterin auf Lebenszeit berufen werden kann. Der Staatsanwaltschaftswahlausschuss ist zuständig für die Ernennung von Staatsanwälten auf Lebenszeit. Beide sichern damit die personelle Besetzung der thüringischen Justiz mit ab. Letztere ist überaltert, weshalb viele solcher Berufungen in den nächsten Jahren anstehen.
Zehn der fünfzehn Mitglieder des jeweiligen Wahlausschusses entsendet der Landtag aus seinen Reihen. Jede Fraktion, also auch die AfD, muss mindestens einmal vertreten sein. Und jeder Kandidat braucht mindestens die Stimmen von zwei Dritteln aller Abgeordneten.
Schon in der vergangenen Legislatur blockierte die AfD selbst durch Nicht-Aufstellung eigener Kandidaten für den Richterwahlausschuss dessen Besetzung - und erzwang dadurch die Wahl eines Landtagsvizepräsidenten aus ihren Reihen. In der Legislatur von 2014 bis 2019 hatte es ein ähnliches Manöver mit dem Richterwahlausschuss und dem Vorsitz des Justizausschusses gegeben.
Aktuell nicht arbeitsfähig ist die Parlamentarische Kontrollkommission. Das Gremium des Landtags kontrolliert die Arbeit des Verfassungsschutzes. Der AfD wurde ein Posten dort bislang verweigert, obwohl sie zunächst wie alle anderen Fraktionen ein Benennungsrecht hatte. Ihre Bewerber fielen bei den Wahlen durch.
Ende 2022 wurde dann die Gesetzesgrundlage geändert. Nun musste nicht mehr jede Fraktion in der PKK vertreten sein, jeder Vertreter brauchte allerdings eine Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Wahl. Daran scheiterte nun erneut die Besetzung etwa mit einem Mitglied der Linken.
Ungewissheit droht auch bei Landtagspräsidenten-Wahl
Engagierte Juristen etwa des Fachmediums "Verfassungsblog" haben früh vor dem Potenzial einer Sperrminorität gewarnt. Vorbereiten konnten sich die anderen Fraktionen auf die neuen Thüringer Verhältnisse dennoch nur schwer.
In informellen Gesprächen vor der Wahl versuchten CDU, Linke, SPD und die nun nicht im Landtag vertretenen Grünen zudem eine drängendere Frage zu klären: Bis zum 1. Oktober muss sich der neue Landtag konstituieren. Dann wählen die Abgeordneten auch einen Landtagspräsidenten oder eine -präsidentin.
Die AfD hat als stärkste Fraktion ein Vorschlagsrecht auf den Posten. Als wahrscheinlichstes Szenario gilt, dass ein Kandidat der AfD im ersten und zweiten Wahlgang durchfällt und dann im dritten Wahlgang gegen einen geeinten Kandidaten aus den Reihen der anderen Fraktionen verliert. Danach würde die AfD wahrscheinlich das Landesverfassungsgericht anrufen.
Die Partei hat noch eine andere Hoffnung: Die Wahl ist geheim. Es braucht 13 Abgeordnete anderer Fraktionen, um schon im ersten oder zweiten Wahlgang einen Kandidaten durchzubekommen.
Aus der CDU könnten Stimmen kommen, heißt es aus der AfD, aber auch vom Bündnis Sahra Wagenknecht. Dessen Abgeordnete sind zum Teil Politikneulinge. Und das BSW hat erklärt, nicht grundsätzlich jeden AfD-Antrag ablehnen zu wollen. So wird die Wahl des Landtagspräsidenten zum ersten Lackmustest für mehrere Akteure der Thüringer Politik.