Afghanistan-Politik der Bundesregierung Streiten, ob Hilfe wirklich richtig ist
Deutschland hat seine Finanzhilfen für Afghanistan deutlich reduziert. Ob das richtig ist, darüber streitet die Politik. Hilfsorganisationen drängen auf stärkeres Engagement.
Hans-Hermann Dube formuliert drastisch, wenn man ihn auf die deutsche Hilfe für die Menschen in Afghanistan anspricht. "Wir lassen sie im Moment verrecken", sagt der 70-jährige pensionierte Beamte aus Schleswig-Holstein: "Und das macht mich ganz nervös, zu erleben, dass wir eine ziemlich ignorante deutsche Politik haben."
Dube hat mehrere Jahre in Kabul gelebt und leitete von 2002 bis 2015 Entwicklungsprojekte der staatlichen deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Zur Realisierung der Projekte habe er damals mit allen Beteiligten vor Ort gesprochen, auch mit den Taliban. Das müsse auch jetzt geschehen, ist er überzeugt: "Wir werden mit dieser Regierung, ob Taliban oder wer auch immer, leben und arbeiten müssen, um den Menschen zu helfen, damit sie aus diesem Land nicht mehr fliehen müssen."
Hans-Hermann Dube (rechts) von der GIZ.
Dube spricht sich vehement für eine Wiederaufnahme umfassender Entwicklungshilfen aus, um Afghaninnen und Afghanen in die Lage zu versetzen, für ihr Überleben zu arbeiten. "Das wäre die beste Möglichkeit, dem Land zu helfen."
Nichtregierungsorganisationen appellieren an Bundesregierung
22 deutsche Nichtregierungsorganisationen hatten im Februar in einem Brief an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock appelliert, die humanitäre Arbeit "wieder in vollem Umfang zu ermöglichen - politisch wie finanziell" und dem Versprechen der Bundesregierung nachzukommen, "die Menschen in Afghanistan nicht im Stich zu lassen".
Welthungerhilfe-Geschäftsführer Mathias Mogge sagte jetzt NDR Info, die humanitäre Nothilfe gehe zwar weiter, aber mit mehr Geld der internationalen und deutschen Geber auch für Entwicklungshilfeprojekte könnte man "wesentlich mehr umsetzen".
Von 330 Millionen auf 39 Millionen Euro
Doch das ist in der Ampel-Koalition derzeit nicht mehrheitsfähig. Während die SPD neben Nothilfe auch eine Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe fordert, lehnen FDP, Grüne und das Auswärtige Amt dies derzeit ab. Sie verweisen dabei unter anderem auf das Dekret der Talibanführung, das Frauen die Arbeit für Hilfsorganisationen verbietet. Das ergab eine Abfrage der Bundestagsfraktionen und der beteiligten Ministerien durch NDR Info.
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, man habe für 2023 bislang 39 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für Afghanistan zugesagt. 2022 waren es noch 330 Millionen. Das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) finanziert derzeit nur Projekte für die Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse. Umfassende Entwicklungsprojekte wie vor der Machtübernahme der Taliban liegen auf Eis. Der Umfang des Engagements hängt nach Angaben eines Ministeriumssprechers davon ab, "ob und inwieweit es möglich sein wird, mit Frauen für Frauen in Afghanistan tätig zu sein".
Hilfsorganisationen berichten, dass in vielen Regionen Hilfe in Absprache mit den dortigen Talibanverantwortlichen auch mit Beteiligung von Frauen möglich sei. "Wir haben nach wie vor den Eindruck, dass wir sicherstellen können, dass die Hilfe bei den Bedürftigsten ankommt", so Mathias Mogge von der Welthungerhilfe. Auch bei Frauen und Kindern, "das können wir nach wie vor garantieren".
Koalition tief gespalten
Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gabriela Heinrich sagte NDR Info ausdrücklich auch mit Bezug auf Entwicklungshilfe: "Überall da, wo man mit Organisationen direkt an die Menschen kommen kann, muss man es weiter machen, muss man es weiter probieren, so lange und soweit es eben geht."
Dagegen erklärte der entwicklungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Till Mansmann: "Unter den aktuellen Voraussetzungen ist Entwicklungszusammenarbeit schlicht nicht möglich und sollte ausgesetzt bleiben - auch, um nicht die Politik eines menschenfeindlichen Regimes zu stützen".
Die Grünen-Abgeordnete Schahina Gambir befürwortete lediglich humanitäre Hilfe und forderte von den Taliban, das Beschäftigungsverbot für Frauen zurückzunehmen. "Die Taliban benachteiligen so gezielt Frauen als Ziel von humanitärer Hilfe. Sie verhindern so die lebensrettende Hilfe für ihre eigene Bevölkerung. Sie nehmen sie in Geiselhaft."
Gabriela Heinrich von der SPD sprach von einem Dissens in der Koalition, dessen Lösung eine Frage von Gesprächen und der Zeit sei, weil andere Länder ihre Aktivitäten in Afghanistan derzeit verstärkten.
FDP und Grüne fürchten falsches Signal an Taliban
Um Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit vor Ort zu unterstützen, schlägt die Welthungerhilfe die Wiedereröffnung der Deutschen Botschaft in Kabul auf Arbeitsebene vor. Das befürwortet auch SPD-Politikerin Heinrich. FDP und Grüne lehnen sie jedoch strikt ab und würden darin ein falsches Signal an die Taliban-Regierung sehen.
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu, angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen gebe es derzeit keine Pläne für eine Wiedereröffnung der Botschaft in Kabul. Klar sei, "dass wir uns mit der internationalen Hilfe nicht zum Handlanger der Taliban machen können, die mit ihrem Vorgehen grundlegenden humanitären Prinzipien widersprechen".
Auch in der Opposition gehen die Meinungen stark auseinander. Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Sevim Dagdelen, sprach sich für umfassende Entwicklungshilfe und die Eröffnung der Botschaft aus. Sie sei dagegen, die Afghanistan-Hilfen als Druckmittel einsetzen zu wollen. "Es ist eine wohlfeile Illusion, dadurch die reaktionäre Politik der Machthaber ändern zu können. Wir brauchen dringend eine humanitäre Wende der deutschen Afghanistanpolitik", so Dagdelen.
"Entwicklungspolitisch ein Fass ohne Boden"
Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt forderte dagegen Zugeständnisse der Taliban: "Wenn wir Entwicklungshilfeprojekte oder auch Hilfsprojekte organisieren, dann gilt natürlich immer, dass wir auch auf die Einhaltung von Menschenrechten und von Grundrechten achten. Das ist nicht gewährleistet."
Der entwicklungspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Markus Frohnmaier, sieht "derzeit keine Grundlage für weitere Hilfsleistungen". Afghanistans Probleme könnten nicht von außen gelöst werden, Deutschland solle sich zurückziehen. "Afghanistan ist entwicklungspolitisch ein Fass ohne Boden", warnte er.
Dube hat bei allem Groll gegen die Bundesregierung und trotz der prekären humanitären Lage Hoffnung für Afghanistan. "Ich habe so lange in dem Land gelebt und kenne die Menschen", sagte der pensionierte Beamte aus Bordesholm. "Ich stehe im täglichen Kontakt, auch mit der derzeitigen afghanischen Regierung." Daher wisse er, dass "diese Menschen eine Verbesserung der Situation im Land haben wollen". Und deswegen werde sich die Lage verändern.