Wladimir Putin und freigelassene Spione
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Gefangenenaustausch Putin und seine "Wunderkinder"

Stand: 02.08.2024 13:54 Uhr

Beim großen Gefangenenaustausch sind auch mehrere russische Spione freigekommen, darunter sogenannte Illegale. Sie gelten in Russland als Elite unter den Geheimdienstmitarbeitern.

Mit einem Blumenstrauß in der Hand stand am Donnerstagabend der russische Präsident an der Treppe des Flugzeugs, das die Freigelassenen nach Russland brachte. Eine Familie schritt die Stufen hinunter, erst die Mutter mit Tochter, dann der Vater mit dem Sohn an der Hand. Wladimir Putin umarmte die Frau, drückte ihr die Blumen in die Hand. Es flossen Tränen.

Die kleine Familie war Teil des großen Gefangenenaustauschs zwischen Russland, den USA und anderen Staaten, der am Donnerstag in der Türkei stattfand. Es ist keine gewöhnliche Familie, denn das Ehepaar Artem Dultsev und Anna Dultseva sind russische Spione. Und zwar sogenannte Illegale. Sie haben jahrelang in Slowenien gelebt und sollen in ganz Europa spioniert haben. Im Dezember 2022 dann flogen sie auf und wurden festgenommen. Die beiden noch minderjährigen Kinder kamen zunächst in die Obhut der Behörden.

Plötzliches Geständnis

In dieser Woche hatte ein slowenisches Gericht die beiden Spione überraschenderweise zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem beide plötzlich ein Geständnis abgelegt hatten. Wohl nicht ganz zufällig: US-Präsident Joe Biden soll kürzlich die slowenische Präsidentin angerufen und darum gebeten haben, eine frühe Abschiebung des Paares als Teil des Gefangenenaustauschs möglich zu machen.

Artem Dultsev und Anna Dultseva gaben sich als Argentinier "Ludwig Gisch", angeblich geboren in Namibia, und "Maria Rosa Mayer Muñoz" aus. Sie lebten tatsächlich einige Zeit in Argentinien, bevor sie wohl im Jahr 2017 nach Slowenien kamen. Sie zogen nach Črnuče, einem Vorort der Hauptstadt Ljubljana.

"Ludwig Gisch" betrieb eine Softwarefirma, seine Frau gab sich als Kunsthändlerin aus, baute eine Online-Galerie auf. Sie stellte Werke von Künstlern aus der ganzen Welt aus, auch aus Deutschland. Eine Malerin aus Brandenburg sagte dem WDR vor einigen Monaten auf Nachfrage, sie habe "Maria Mayer" nie persönlich getroffen, sondern sei von ihr über Instagram kontaktiert worden. Mehr als ein paar Nachrichten habe man nicht ausgetauscht, Frau "Mayer" habe sich als Argentinierin vorgestellt.

Bargeld im Kühlschrank

Nach der Festnahme des Paares im Dezember 2022 fanden die slowenischen Ermittler im Haus der Familie mehrere Hunderttausend Euro in bar, versteckt im Kühlschrank. Die Vermutung der Sicherheitsbehörden ist, dass die "Illegalen" damit andere Spione oder vielleicht sogar Quellen bezahlt haben. 

Auch die vielen Reisen der angeblichen Argentinier werden weiterhin untersucht. Damit ist auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) befasst, denn die Spione waren wohl auch mehrfach in Deutschland. Zum Beispiel auf einer IT-Messe in Baden-Württemberg. Ob das Paar auch in Deutschland spioniert hat, ist unklar. Nachbarn hatten den Ermittlern in Slowenien allerdings berichtet, dass beide offenbar ziemlich gut Deutsch sprechen.

"Illegale" werden auch "Schläferagenten" genannt

"Illegale" gelten in Russland als Elite unter den Geheimdienstlern. Diese Spione, auch "Deep Cover Agents" oder "Schläferagenten" genannt, leben oft viele Jahre oder gar Jahrzehnte unter falscher Identität im Ausland. Ihr Auftrag: Geheime Informationen beschaffen, Menschen in wichtigen Positionen, oft mit Zugang zu brisantem Material, kennenlernen. Teilweise rekrutieren und führen sie sogar selbst Quellen.

Nach außen leben die "Illegalen" ein oft bürgerlich wirkendes Leben, studieren etwa an Universitäten, gehen gewöhnlichen Berufen nach. Manche gründen sogar eine Familie, bekommen Kinder, die nichts von der wahren Identität ihrer Eltern ahnen. Direkte Kontakte nach Russland gibt es nicht, mit der Geheimdienstzentrale in Moskau kommunizieren die Spione unter anderem über verschlüsselten Kurzwellenfunk oder tote Briefkästen.

Putins "Wunderkinder" genießen keinen diplomatischen Schutz

Wenn "Illegale" auffliegen, genießen sie keinen diplomatischen Schutz, anders als die Geheimdienstler, die an Botschaften oder Konsulaten stationiert sind. Die "Illegalen" können also vor Gericht landen und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt werden. Ein hohes Risiko, was auch zum Mythos um diese Spione beiträgt.

"Ein illegaler Spion ist nicht geschützt durch einen diplomatischen Pass. Und jeden Tag setzt er seine Freiheit, Gesundheit und vielleicht sogar sein Leben aufs Spiel", sagte Wladimir Putin vor wenigen Jahren. Viele Länder hätten Nachrichtendienste, aber nicht alle Staaten verfügten über ein so "ein mächtiges, so besonderes Instrument wie die illegale Spionage". Putin ist sichtlich stolz auf seine Spione, er nennt sie "Wunderkinder".

In Deutschland sind seit dem Ende des Kalten Krieges nur einmal russische "Illegale" aufgeflogen: das Ehepaar "Andreas" und "Heidrun Anschlag". Sie kamen bereits Ende der 1980er-Jahre in die Bundesrepublik, festgenommen wurden sie erst im Oktober 2011 im hessischen Marburg.

Identitäten Verstorbener angenommen

Das "Illegalen-Programm" entstand vor mehr als 100 Jahren, im Jahr 1922, kurz nach der Gründung der Sowjetunion. Damals verfügte das Land nur über wenige offizielle diplomatische Vertretungen weltweit. Daher konnte Stalins Geheimpolizei nur auf wenige Spione setzen, die als Diplomaten im Ausland eingesetzt waren. Und so entstand das Spionageprogramm mit den "Illegalen".

Im Kalten Krieg war das Direktorat S im KGB dafür zuständig, solche Spione zu rekrutieren, auszubilden und in den Einsatz zu schicken. Die Vorgehensweise war damals schon ähnlich wie heute: In bestimmten Ländern, vor allem in Südamerika, aber auch in Afrika, meist in Staaten mit einem gewissen europäisch-stämmigen Bevölkerungsanteil, suchten russische Geheimdienstler oftmals auf Friedhöfen nach den Gräbern verstorbener Kinder oder Jugendlicher.

Da in einigen Staaten die Geburtsdatenbanken nicht mit den Datenbanken verstorbener Menschen verknüpft waren, war es meist sehr einfach, sich als die eigentlich verstorbene Person auszugeben und bei Ämtern eine Geburtsurkunde zu beantragen. Damit wiederum konnten echte Ausweispapiere beschafft werden. Mit diesen Identitäten, sogenannten Legenden, ausgestattet, schickte der sowjetische Geheimdienst die Spione dann in ein Zielland.

Mindestens zwei der Spione arbeiteten für den GRU

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde der KGB zwar zerschlagen, das "Illegalen-Programm" aber wurde fortgeführt. Heute ist der russische Auslandsgeheimdienst SWR für das Direktorat S zuständig, aber auch der Militärgeheimdienst GRU verfügt wohl seit einigen Jahren wieder über ein Programm der "Illegalen"-Spionage.

Mindestens zwei der nun ausgetauschten Spione, ein angeblicher Brasilianer, der in Norwegen aufflog, und ein Spanier, der in Polen verhaftet wurde, sollen für den GRU tätig gewesen sein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 02. August 2024 um 09:00 Uhr.