Klimaneutralität bis 2045 Grünes Wirtschaftswunder oder Deindustrialisierung?
Bis 2045 will Deutschland zum klimaneutralen Industrieland werden. Investitionen in grüne Technologien bieten große Wachstumspotenziale. Gleichzeitig wächst die Sorge vor einer Abwanderung der Industrie.
Gerade einmal anderthalb Jahre ist der Satz von Olaf Scholz alt, und doch wirkt er wie aus der Zeit gefallen: "Wegen der hohen Investitionen in den Klimaschutz wird Deutschland für einige Zeit Wachstumsraten erzielen können, wie zuletzt in den 1950er- und 1960er-Jahren geschehen", hatte der Bundeskanzler im März 2023 in einem Interview mit der Lausitzer Rundschau gesagt.
Wirtschaft schrumpft - Geld für Investitionen fehlt
In den 1950er-Jahren, zu Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders, hatte das Wachstum in der Bundesrepublik bei durchschnittlich mehr als acht Prozent pro Jahr gelegen. 2023 jedoch ist die deutsche Wirtschaft geschrumpft, in diesem Jahr droht ihr dasselbe Schicksal.
Große staatliche Investitionen wurden durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen November erschwert. Die Ampel-Regierung hatte 60 Milliarden Euro, die eigentlich für Corona-Hilfen vorgesehen waren, in den Klima- und Transformationsfonds überführt. Das Verfassungsgericht erklärte dieses Vorgehen für unzulässig, das Geld für Investitionen fehlt nun. Das Ziel bleibt hingegen bestehen: Bis 2045 soll Deutschland ein klimaneutrales Industrieland werden.
Die Emissionen in der deutschen Industrie seien in den vergangenen Jahren tatsächlich leicht gesunken, sagt Falko Ueckerdt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Aber: "Dies liegt neben einer erhöhten Energieeffizienz vor allem an konjunkturbedingten Produktionsrückgängen", so Ueckerdt.
BDI: Klimainvestitionen von 880 Milliarden Euro notwendig
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen bedroht, unter anderem wegen hoher Energiepreise. "Das Risiko einer Deindustrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teils schon eingetreten", warnt BDI-Präsident Siegfried Russwurm.
Der Verband fordert deshalb massive Investitionen in den Umbau der Wirtschaft und des Standortes. Wie teuer das werden könnte, hat eine vom BDI beauftragte Studie beziffert. Danach liegen die Kosten für eine umfassende Transformation der Industrie, die neben Klimaschutz unter anderem auch die Digitalisierung beinhaltet, bei 1,4 Billionen Euro bis 2030. Allein auf Klimainvestitionen entfallen 880 Milliarden Euro.
Nach Meinung der Studienautoren sollten zwei Drittel dieser Kosten von Unternehmen und Privathaushalten aufgebracht werden, ein Drittel vom Staat. Beispielsweise seien Investitionen in die Stromnetze, die Versorgung mit Wasserstoff und die Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge nötig.
Zukunft von Stahl und Grundstoffchemie fraglich
Besonders schwierig wird die Transformation für die energieintensive Industrie. Allein die Grundstoffchemie sowie die Zement- und Primärstahlproduktion sind nach Angaben der Bertelsmann Stiftung für 70 Prozent der deutschen Industrieemissionen verantwortlich.
Im Stahlbereich versucht die Bundesregierung mit Milliardenförderungen den Umstieg auf eine klimaneutrale Produktion zu ermöglichen, die mit Hilfe von Grünem Wasserstoff erfolgen soll. Der Umweltökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum bezweifelt allerdings, dass die deutsche Stahl- und Grundstoffchemieindustrie langfristig tatsächlich im Wettbewerb bestehen kann. Denn Grüner Wasserstoff wird mit Erneuerbaren Energien erzeugt und werde deshalb in den Teilen der Welt am günstigsten sein, in denen es viel Sonne und Wind gibt.
"Wir werden nicht alle energieintensiven Industrien in Deutschland halten können", so Löschel. "Für die Grundstoffchemie und die Stahlindustrie sehe ich in der Breite wenig Licht am Ende des Tunnels." Aus seiner Sicht wäre aber der Import von industriellen Zwischenprodukten und der Fokus auf deren Weiterverarbeitung eine Option.
Wachstumsmöglichkeiten bei Zukunftstechnologien
Die Zementindustrie wird Löschel zufolge hingegen Chancen in Deutschland haben, weil die Transportkosten für Zement vergleichsweise hoch seien. Der Import aus fernen Teilen der Welt lohne sich also viel weniger als in den anderen Sektoren. Das gelte insbesondere dann, wenn die Industrieanlagen nicht an der Küste oder an Wasserstraßen liegen.
Allerdings steht auch die Zementindustrie vor großen Herausforderungen, weil der größte Teil der CO2-Emissionen bei der Herstellung aus dem Gestein selbst kommt und deshalb besonders schwer zu vermeiden ist. In einer Auswertung des Handelsblattes ist Heidelberg Materials (ehemals Heidelberg Cement) der größte CO2-Emittenten im DAX. Damit hat das Unternehmen den Energieriesen RWE überholt.
Für die deutsche Industrie gibt es aber auch Wachstumsmöglichkeiten durch die Transformation. Forscher Ueckerdt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sieht vor allem Chancen bei Zukunftstechnologien, zum Beispiel Wärmepumpen, Batterien oder Elektroautos. Klar ist, dass die Industrie vor großen Veränderungen steht. "Um auch in Zukunft erfolgreich zu sein, muss Deutschland sich als Industrienation neu erfinden", schreiben die Autoren in der vom BDI beauftragten Studie zur Transformation der deutschen Industrie.