Suche nach Vermissten in Syrien Erfahren, was wirklich passiert ist
In Syrien werden immer noch Zehntausende vermisst. Aktivisten fordern eine Aufarbeitung der Verbrechen. Die wurden nicht nur vom gestürzten Assad-Regime begangen, sondern auch von Milizen, die den neuen Machthabern nahestehen.
Eine kleine Demonstration in Douma, einer Vorstadt von Damaskus. Etwa 70 bis 80 Menschen sind zusammengekommen. Viele können es noch nicht fassen, dass sie wieder in Syrien im Protest auf die Straße gehen können, ohne Angst zu haben, festgenommen zu werden und in einem der berüchtigten Gefängnisse des Assad-Regimes zu landen.
"Wir sind hier und sprechen die Wahrheit aus - wir sind in der Lage innerhalb Syrien zu protestieren." Verrückt sei das, sagt die junge Aktivistin Céline Kasem.
Mehr als Hunderttausend Vermisste
Viele der Demonstrierenden leben eigentlich im Exil, Nach dem Sturz das Langzeit-Machthabers Baschar al-Assad sind sie in ihre Heimat gereist.
Der Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh ist aus Berlin gekommen. Der grauhaarige Mann hält ein Foto seiner Frau hoch. Samira Khalil war eine bekannte Menschenrechtsaktivistin, im Dezember 2013 wurde sie hier in Douma entführt, gemeinsam mit drei Mitstreitern vom Centre for the Documentation of Violations.
Vor dieser Tür habe ich meiner Frau und ihren Freunden auf Wiedersehen gesagt. Danach habe ich sie nie wieder gesehen.
Entführt wurden Khalil und ihre Mitstreiter nicht von dem Assad-Regime, sondern von der Islamistenmiliz Jaysh al-Islam, die Douma von 2012 bis 2018 weitgehend kontrolliert hat.
Offiziell zählen die vier Entführten zu den mehr als Hunderttausend Vermissten im Land. Al-Haj Saleh sagt, bis zum Beweis des Gegenteils gehe er davon aus, dass sie am Leben sind. Aber so ganz überzeugt davon klingt er nicht: "Ihnen wird nicht nur das Leben verwehrt, sondern auch der Tod. Und uns wird die Trauer verwehrt. Das macht dieses Verbrechen so unmenschlich."
"Die Zivilgesellschaft muss miteinbezogen werden"
Die Demonstranten fordern Aufklärung und Aufarbeitung - die müsse im gleichen Maße die Verbrechen des gestürzten Regimes betreffen wie diejenigen, die von islamistischen Gruppen begangen wurden.
Al-Haj-Saleh sagt, die aktuelle Situation biete eine Chance für Gerechtigkeit, die dürfe nicht verloren gehen. Und die junge Aktivistin Kasem fügt hinzu: "Wir brauchen einen Mechanismus, damit die Syrer die Wahrheit erfahren und damit es Rechenschaft gibt. Die Zivilgesellschaft muss da miteinbezogen werden. Nach all den Jahren ist es das Mindeste, dass wir erfahren, was wirklich passiert ist."
Miliz will zumindest Assad-Verbrechen verfolgen
Die neuen Machthaber in Syrien haben angekündigt, dass sie schwere Verbrechen des Assad-Regimes verfolgen wollen. Männer, die für Mord und Folter zuständig sind, sollen in Syrien verurteilt werden, so die Ankündigung. Von Verbrechen, die sie selbst oder ihre zeitweiligen Verbündeten wie die Miliz Jaysh al-Islam begangen haben, ist bislang nicht die Rede.
Viele der Demonstranten in Douma befürchten daher, dass diese Seite der Wahrheit unter den Teppich gekehrt wird.
Furcht vor berüchtigter Jaysh-al-Islam-Miliz
Einige der Aktivisten ziehen noch weiter zu einem Ort, wo, so sagen sie, Jaysh al-Islam ein Gefängnis betrieben haben soll. Es steht in einem Teil der Stadt, der 2018 durch Luftangriffe des Regimes fast vollständig in Schutt und Asche gelegt wurde. Inmitten des Schutts ragt ein Betongerippe mehrere Stockwerke empor.
In einer Einfahrt steht ein Panzer, davor ein junger bärtiger Mann, der sagt: "Nicht fotografieren, den fahre ich." Ein Gefängnis habe es hier nie gegeben. Als er anfängt zu telefonieren, wird den Menschenrechtsaktivisten etwas mulmig. Im Flüsterton sagen sie, die berüchtigte Miliz Jaysh al-Islam sei noch immer mächtig in Douma.