Verteidigungsminister Pistorius spricht mit deutschen Soldatinnen und Soldaten im Irak
analyse

Deutsche Verteidigungspolitik Mehr Verantwortung, wenig Geld

Stand: 14.01.2025 17:54 Uhr

Ukraine-Hilfe, Einsätze in Mittelmeer und Ostsee - und nicht zuletzt die deutsche Brigade in Litauen: Die Bundeswehr übernimmt weltweit Verantwortung. Und die Erwartungen an Deutschland steigen. Kann das gutgehen?

Eine Analyse von Stephan Stuchlik, ARD Berlin

Boris Pistorius weiß, was es heißt, die Ukraine zu besuchen: Die lange Anreise per Zug, der Aufenthalt in Kiew, die Luftalarme, die es dort regelmäßig gibt, und die Erwartungen der Gastgeber, die auf den Pressekonferenzen Deutschland für seinen Einsatz loben und gleichzeitig erwarten, dass der deutsche Minister weitere Unterstützung verspricht. Der heutige Besuch des Verteidigungsministers ist nicht sein erster, aber es könnte sein letzter in dieser Funktion sein.

Es ist eine sonderbare Situation für Pistorius: Dort, wo er herkommt, in Deutschland, hat ein Wahlkampf Fahrt aufgenommen, bei dem viele das Wort "Krieg" oder "Ukraine-Unterstützung" nur mehr ungern in den Mund nehmen. Das Zögern des Kanzlers, ein Unterstützungspaket von etwa drei Milliarden Euro für Kiew auf den Weg zu bringen, spricht Bände.

Dort, wo er hinfährt, steigen dagegen die Erwartungen an Deutschland ständig: Das wirtschaftlich stärkste Land der EU soll nach Meinung der Partner schnell mehr Verantwortung im Sektor "Sicherheit" übernehmen.

EU-Länder wollen koordinierter vorgehen

Gestern traf Pistorius sich mit seinen Kollegen aus Polen, Frankreich, Großbritannien und Italien, alles NATO-Partner. Man will jetzt die Rüstungszusammenarbeit zwischen den Ländern besser koordinieren, das war ein Ergebnis des Treffens. Jeder, der einmal miterlebt hat, was allein die gemeinschaftliche Produktion des deutsch-französischen Luftkampfsystems FCAS an diplomatischen und sonstigen Verwerfungen mit sich bringt, weiß, welche Sisyphus-Aufgabe da auf die Beteiligten wartet.

Zudem wolle man der Ukraine helfen, dass sie - mit Unterstützung westlicher Firmen - eine eigenständige Rüstungsproduktion aufbauen könne, das sehen die beteiligten Länder augenscheinlich als Teil einer Sicherheitsgarantie für das Land.

Das sind alles berechtigte Vorschläge, nur dass mehr deutsche Verantwortung auf diesem Gebiet natürlich heißt: mehr deutsche Kapazitäten und mehr deutsches Geld. Was das bedeutet, kann man sich bereits in der Ostsee ansehen, wo man schon über bloße Absichtserklärungen hinaus ist: Deutschland übernimmt seit Oktober mit dem taktischen Hauptquartier der NATO eine größere Verantwortung für das Gebiet - von Führungsrolle will in diesem Zusammenhang im Verteidigungsministerium niemand sprechen.

Die heutige Ankündigung des Bundeskanzlers, Schiffe zur Sicherung auch der digitalen Infrastruktur auf dem Meeresboden bereitzustellen, ist nur konsequent.

Was kann die deutsche Marine leisten?

Aber wie viel kann man der deutschen Marine zumuten? Waffenschmuggel vor dem Libanon kontrollieren wie mit der Mission UNIFIL? Der Einsatz vor Libyen (IRINI)? Die Sicherheit des Mittelmeeres prinzipiell (Sea Guardian)? Die Freiheit der Seewege am Horn von Afrika sichern (Aspides) - und im Pazifik? Und jetzt mehr Engagement in der Ostsee?

Das geht alles zusammen, sagt das Verteidigungsministerium. Die Wahrheit ist aber, dass nicht nur die Landstreitkräfte über Jahre chronisch unterfinanziert waren, dass Deutschland mit Mühe und Not Männer, Frauen und Schiffe stellen kann. Wenn die Bundesrepublik zunehmend an vielen Stellen mehr Verantwortung übernimmt, braucht sie dazu mehr Geld.

"Zeitenwende"-Projekt Litauen

Gleiches gilt natürlich für das "Leuchtturmprojekt der Zeitenwende", wie Pistorius es nennt: die Brigade in Litauen. Zum ersten Mal überhaupt wird die Bundeswehr nicht nur die Ostflanke der NATO verstärken. Sie wird sich in Litauen, im Gebiet zwischen belarusischer und russischer Staatsgrenze, also gewissermaßen an vorderster Front, niederlassen.

Es entstehen Kasernen, in denen eine Brigade - also etwa 5.000 Männer und Frauen - dauerhaft dient, Unterkünfte, in denen Soldatinnen und Soldaten mit ihren Familien dauerhaft leben sollen. So ein Modell kennt man hierzulande vor allem durch die US-Kasernen auf deutschem Boden.

Materialnot in der Truppe

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Verteidigungsminister Schwierigkeiten hat, dauerhaft das adäquate Gerät dafür zu besorgen. Der zuständige Inspekteur des Heeres bezeichnete vor einiger Zeit den materiellen Zustand seiner Truppe als "grenzwertig". Das würde er vermutlich so nicht noch einmal wiederholen, richtig ist die Aussage aber trotzdem noch.

Und Soldatinnen und Soldaten, die sich zeitlich verpflichten, mit ihren Familien in Sichtweite der russischen Föderation und Belarus zu leben, wird man nur finden, wenn es Anreizprogramme für sie gibt. Unabhängig davon, dass das Gesetz dazu immer noch nicht beschlossen ist: Auch das kostet Geld.

Sondervermögen ist "veranlagt"

Mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen sollte für die Truppe das Großgerät zur Verfügung gestellt werden, das zur Landes- und Bündnisverteidigung dringend notwendig ist, dessen Anschaffung aber über Jahre verschleppt wurde. Jetzt ist das Sondervermögen zum größten Teil "veranlagt", die Rüstungsprojekte sind also fest bei der Industrie bestellt.

Trotzdem bleibt sogar bei den großen Geräten vieles übrig, was man nach Angaben der Bundeswehr dringend braucht, wofür aber kein Geld mehr da ist. So hat Pistorius vier U-Boote, die die Marine einfordert, schon einmal bei der Industrie in Auftrag gegeben. Die Schlussrechnung wird die künftige Bundesregierung begleichen müssen - von welchem Geld, ist noch völlig unklar.

Dass das gesamte Gerät, egal wo und wie bestellt, der Bundeswehr erst in Jahren zur Verfügung stehen wird, steht auf einem anderen Blatt Papier. Soll die Truppe schon 2029 "kriegstüchtig" sein, wie es der Verteidigungsminister fordert, genügen die momentanen Anstrengungen, darin sind sich alle Experten einig, bei weitem nicht.

Trump wird neue Forderungen stellen

Und dann wird es in wenigen Tagen einen neuen US-Präsidenten geben. Donald Trump will, dass sich die Europäer mehr um europäische Sicherheit kümmern. Sollte er das auch durchsetzen - wovon die meisten Beobachter ausgehen - wird es für die zukünftige Bundesregierung noch ungemütlicher. Eine halbe Billion Euro werde es kosten, allein die EU-Rüstungsindustrie zügig für so eine Aufgabe zu befähigen, sagt der neue EU-Verteidigungskommissar. Auch da wird Berlin zukünftig tiefer in die Tasche greifen müssen. 

Und wenn der Krieg in der Ukraine und die Unterstützung Kiews teuer sind, so wird ein möglicher Frieden für Europa und die EU nicht billiger: Wiederaufbau und Sicherung des ukrainischen Kernlandes werden nach dem Willen Donald Trumps ebenfalls hauptsächlich von den Europäern geleistet werden müssen. Das hieße nach einem Waffenstillstand möglicherweise eine Entsendung von deutschen Truppen, die zusammen mit Partnernationen auf ukrainischem Boden den Frieden mit Russland sichern müssten.

Deutschlands Verteidigungsausgaben - ein Dauerthema

Das ist in Deutschland momentan ebenso schwer vermittelbar wie die Forderung des künftigen US-Präsidenten, dass NATO-Länder zukünftig fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben sollen. Für die Bundesrepublik betrüge die Summe über 200 Milliarden Euro, je nach Rechnung zwischen einem Viertel bis einem Drittel des gesamten Bundeshaushalts. Das mag als Maximalforderung gedacht sein, aber mit den bisherigen zwei Prozent Militärausgaben, die die Bundesrepublik dieses Jahr knapp erreicht hat, wird man Washington nicht beeindrucken können.

Boris Pistorius hat immer betont, er wolle sein eigener Nachfolger sein, also auch in einer künftigen Bundesregierung als Verteidigungsminister arbeiten. Höhere Militärausgaben, mehr Geld für die Ukraine, mehr Waffen für die Ukraine, mehr Geld für die Verteidigung Deutschlands, mehr Soldatinnen und Soldaten für die Sicherung der NATO-Ostflanke, möglicherweise künftig Bodentruppen in der Ukraine - angesichts dieser Szenarien ist nicht sicher, ob er nicht manchmal insgeheim wünscht, jemand anderer würde den Posten übernehmen.

Pistorius weiß: Die stundenlange An- und Abreise im Zug bei Besuchen in Kiew ist der geringste Stress bei diesem Job.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 14. Januar 2025 um 14:00 Uhr.