Grünen-Parteitag in Bonn "Politik für die Realität, die da ist"
Ukraine-Krieg, Energiekrise und Klimaschutz - die Grünen wollen auf ihrem Parteitag Antworten finden. Grünen-Chefin Lang forderte schnellere Waffenlieferungen an die Ukraine. In den tagesthemen verteidigte sie den Kurs, zwei Atomkraftwerke weiter laufen zu lassen.
Mit einem Bekenntnis zu realpolitischen Zwängen und Verantwortungsbewusstsein haben die Grünen ihren Bundesparteitag in Bonn begonnen. Mit den Worten "Ob wir es wollen oder nicht - am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen", gab die Bundesgeschäftsführerin Emily Büning in ihrer Begrüßungsrede den Kurs für die nächsten Tage vor. Der Parteitag steht unter dem Motto "Wenn unsere Welt in Frage steht: Antworten".
Mehr Tempo beim Klimaschutz
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang betonte den Willen ihrer Partei zur politischen Verantwortung. "Das haben wir uns anders vorgestellt", sagte Lang zum Auftakt einer Debatte zur Sozialpolitik. Sie betonte aber: "Wir machen Politik für die Realität, die da ist, und nicht nur für die, die wir uns gewünscht haben."
Die Koalition forderte sie zu mehr Tempo beim Klimaschutz auf. Mit Blick auf den Koalitionspartner FDP sagte sie, man brauche jetzt keine "Neinsage-Ministerien". Vielmehr müsse man viel Geld in die Schiene investieren. Als wichtigen Schritt für mehr Klimaschutz bezeichnete Lang das geplante 49-Euro-Ticket. Zudem müsse der Kohle-Ausstieg bis 2030 in ganz Deutschland gelingen.
Lang verteidigte in den tagesthemen den Kurs der Grünen, zwei Atomkraftwerke in der Energiekrise bis Frühjahr weiter laufen zu lassen. Dies sei kein Gesichtsverlust der Partei. Es sei eine Frage, was gebraucht werde. Dass weiter Kohlekraftwerke in Betrieb seien, schmerze sie als Klimaschützerin.
Schneller Waffen an die Ukraine liefern
Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sagte Lang: "Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr Waffen liefern müssen, dass wir schneller werden müssen - die Zeit der Zögerlichkeit ist vorbei." Wer deshalb die Rolle der Grünen als Friedenspartei infrage gestellt sehe, müsse wissen, der einzige Kriegstreiber in diesem Konflikt sei der russische Präsident Wladimir Putin.
"Investieren wir uns raus aus dieser Krise"
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hob in einer stellenweise emotionalen Rede den Zusammenhalt der Grünen in der aktuellen Krisenzeit her. "In wahnsinniger Geschwindigkeit hat diese Partei wahnsinnig schwere Entscheidungen getroffen", sagte Habeck.
Er rief zum entschlossenen Widerstand gegen Putin auf. "Putin darf nicht gewinnen, nicht auf dem Schlachtfeld und nicht bei dem Wirtschaftskrieg gegen Europa und gegen Deutschland", erklärte der frühere Grünen-Chef.
"Investieren wir uns raus aus dieser Krise", appellierte Habeck mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen des Konflikts mit Russland. Er versprach: "Wir werden niemals Ursache und Wirkung verwechseln." Viele Grüne erlebten Anfeindungen, fuhr Habeck fort. "Weil wir für all das stehen, was Putin und seine deutschen Trolle hassen."
"Es lohnt sich in der Regierung zu sein"
"Auch wir sind einem Stresstest unterworfen und haben Ja gesagt zu der Verantwortung." Das habe die Partei in den vergangenen Monaten immer wieder bewiesen. Die Grünen hätten gezeigt, dass sie zurecht in der Verantwortung stünden und nicht zauderten, betonte der Vizekanzler. "Jetzt an der Wirklichkeit bemessen beweisen wir, wie wir über uns hinauswachsen."
"Nie habe ich mich so zu Hause gefühlt wie in dieser Phase und nie war ich so stolz auf diese Partei", fügte der Vizekanzler mit bewegter Stimme hinzu, was von den gut 800 Delegierten mit großem Beifall quittiert wurde. "Es lohnt sich, in der Regierung zu sein", sagte Habeck und nannte unter anderem Mindestlohnanstieg und Bürgergeld, aber auch den um acht Jahre vorgezogenen Kohleausstieg.
Proteste in Bonn
Erwartet wurden die Delegierten in Bonn von einigen Dutzend Demonstranten, die unter anderem gegen den geplanten Braunkohle-Abbau im nordrhein-westfälischen Lützerath und gegen die grüne Wirtschaftspolitik protestierten.
Die Kritik an der Entscheidung, die Ortschaft abzubaggern, war auch im Saal sichtbar. Während die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur vorne auf der Bühne über den Ausstieg aus der Kohleverstromung 2030 sprach, hob hinten in der letzten Reihe ein junger Delegierter aus Baden-Württemberg ein Pappschild mit der Aufschrift "Lützi bleibt" in die Höhe.
Mehr Hilfen bei hoher Inflation
Zuerst wollten die Delegierten darüber beraten, welche zusätzlichen Hilfen Leistungsempfänger angesichts der hohen Inflation noch erhalten sollten.
Der Bundesvorstand formulierte in seinem Antrag: "Für uns ist klar: Das Bürgergeld muss perspektivisch noch weiter steigen, und eine bedarfsgerechte und inflationsfeste Neuberechnung der Regelsätze muss kommen." Die gegenwärtig vereinbarte Erhöhung sei lediglich ein erster Schritt hin zu einer "armutsfesten Grundsicherung". Mit dem Bürgergeld will die Ampel-Koalition zum 1. Januar 2023 das Hartz-IV-System in seiner heutigen Form ablösen.
Außenpolitik am zweiten Parteitag
Morgen steht die Außenpolitik im Mittelpunkt des Parteitages mit einer Rede von Außenministerin Annalena Baerbock. Als Gastrednerin spricht die Mitgründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa, zu den gut 800 Delegierten.