Recep Tayyip Erdogan
Kommentar

Erdbeben in der Türkei Erdogan bleibt die Wahrheit schuldig

Stand: 09.02.2023 18:34 Uhr

Tausende Tote, Zehntausende Verletzte, zerstörte Städte und Dörfer - das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in der Türkei ist groß. Und die Regierung muss sich die Frage gefallen lassen, inwieweit sie bei der Prävention versagt hat.

Ein Kommentar von Karin Senz, ARD Istanbul

Das Erdbeben in der Türkei ist eine nationale Katastrophe. Die Menschen stehen unter Schock, nicht nur im Krisengebiet, sondern im ganzen Land. Der Wahlkampf und die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Mitte Mai sind bei kaum einem jetzt ein Thema. Die Gedanken der Türkinnen und Türken gehören den Opfern. Die Chancen, dass Einsatzkräfte Verschüttete lebend bergen, werden immer kleiner.

Aber kaum etwas in der Türkei ist unpolitisch. Aus der Provinz Hatay ganz im Süden an der syrischen Grenze kommt Kritik, staatliche Hilfe lasse auf sich warten. Im Netz, beispielsweise auf Twitter, gehen User noch weiter: Die islamisch-konservativ geprägte Regierung in Ankara vernachlässige absichtlich die Region, in der viele Aleviten leben.

Schwerwiegende Vorwürfe

Am Dienstag besucht Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der CHP die Provinz Hatay. Er schimpft, Helfern würden Steine in den Weg gelegt. Präsident Recep Tayyip Erdogan kommt gestern das erste Mal in die Erdbebenregion. Er spricht von einer negativen Kampagne aus politischem Interesse.

Angesichts dieser Katastrophe von historischem Ausmaß kann man darüber streiten, ob die sehr professionell arbeitenden Einsatzkräfte auch professionell koordiniert werden. Viel schwerwiegender ist aber der Vorwurf, dass Ankara viel zu wenig für die Prävention getan hat. Es ist gängige Praxis, dass illegale Bauten gerne vor Wahlen legalisiert und Bauvorschriften großzügig ausgelegt werden.

Kampf um die Nachrichtenhoheit

Korruption am Bau ist seit Jahrzehnten ein Problem. Und Experten weisen in Diskussionen, vor allem auf den wenigen oppositionellen Sendern, darauf hin, dass an Stellen gebaut wurde, für die Erdbebengutachter Warnungen ausgegeben hatten.

Aber so etwas öffentlich zu äußern ist gefährlich in der Türkei. Die Behörden nehmen mehrere Kritiker wegen Tweets und Aussagen nach dem Beben fest. Sie hätten zu Hass und Feindseligkeit aufgestachelt, lautet der Vorwurf. Gegen hunderte User laufen Ermittlungen. Plötzlich ist der Kurznachrichtendienst Twitter für Stunden in der Türkei nicht mehr erreichbar.

Später twittert Erdogans Sprecher, man habe ein produktives Treffen gehabt. Dabei habe sich Twitter verpflichtet, den Kampf der Türkei gegen Desinformation zu unterstützen. Es scheint, man wolle um jeden Preis, die Nachrichtenhoheit zurückgewinnen.

Den Glauben an die Wahrheit verloren

Die staatsnahen Medien vermitteln ein Bild der Katastrophe mit Erfolgsmeldungen von Geretteten. Das Leid, die Wut und Trauer finden kaum statt, genauso wenig Kritik und Fragen nach Verantwortlichen oder gar Konsequenzen für Politiker.

Kein Wunder, dass viele Türkinnen und Türken den Glauben daran verloren haben, je die Wahrheit zu erfahren, wie viel Naturkatastrophe und wie viel staatliches Versagen ihre Lieben das Leben gekostet hat. Dabei ist die Regierung genau das den Opfern und ihren Familien schuldig.  

Redaktioneller Hinweis

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 09. Februar 2023 um 17:31 Uhr.