Piraten auf der "Hansa Stavanger" Den GSG-9-Einsatz verhindert?
Vier Monate war die "Hansa Stavanger"-Crew 2009 in der Hand somalischer Piraten - eine intensiv vorbereitete Befreiungsaktion wurde kurzfristig abgesagt. Neue Recherchen werfen ein schlechtes Licht auf das Verteidigungsministerium.
Im April 2009 ist das deutsche Containerschiff "Hansa Stavanger" vor der Küste Somalias unterwegs Richtung Mombasa, beladen mit Elektrogeräten, Kleidung und Lebensmitteln. Frederik Euskirchen ist der 2. Offizier an Bord, für die Sicherheit von Crew und Ware zuständig. In den Morgenstunden des 4. April attackieren Piraten das Schiff. Euskirchen erinnert sich an drei Schüsse mit der Panzerfaust. Zwei schlagen ein, mehrere Decks geraten in Brand. "Der dritte sollte die Brücke treffen, um das Schiff zu stoppen."
Die somalischen Piraten schießen mit Kalaschnikows, nehmen die Crew als Geiseln. Sie fordern 15 Millionen US-Dollar Lösegeld von der Hamburger Reederei. Euskirchen muss für die Geiselnehmer die Gespräche mit den Unterhändlern in Hamburg führen. Er nutzt die Gelegenheit, Informationen über die Lage an Bord weiterzugeben, auch zur Vorbereitung einer Befreiungsaktion.
Die Verhandlungen laufen schleppend, die Geiselnehmer erhöhen den Druck, auch mit Scheinhinrichtungen. Ein Pirat setzt an, Euskirchen in den Hinterkopf zu schießen. "Ich habe mich umgedreht und gesagt, er solle mir dann wenigstens von vorne in den Kopf schießen." Der Mann schießt nicht, fordert Euskirchen aber auf, das als Warnung bei seinen Telefonaten zu erzählen.
Befreiungsaktion wird überraschend kurzfristig abgesagt
In Berlin tagt derweil der Krisenstab: Auswärtiges Amt, Innen-, Verteidigungs- und Entwicklungsministerium, Kanzleramt und Sicherheitsbehörden. Hier fällt die Entscheidung, kein Lösegeld zu zahlen: Man habe deutlich machen wollen, "dass es sich nicht lohnt, deutsche Schiffe zu kapern, sondern dass Deutschland bereit ist, in solchen Fällen auch gegen Piraterie aktiv vorzugehen", erinnert sich August Hanning, damals Staatssekretär im Bundesinnenministerium, im Interview mit dem ARD-Magazin Kontraste. Die Spezialeinheit der Bundespolizei, die GSG 9, soll die "Hansa Stavanger" befreien. 200 Mann werden entsandt, trainieren wochenlang für den riskanten Einsatz auf einem Hubschrauberträger, den die US-Navy zur Verfügung stellt. Die Bundeswehr unterstützt mit mehreren Kriegsschiffen. Olaf Lindner war damals der GSG-9-Kommandeur: "Am Ende waren wir uns alle einig, dass wir erfolgreich sein werden. Alle: die Führungskräfte der US Navy, die Führungskräfte der Marine vor Ort und auch wir."
Doch kurz vor der Stürmung des Frachters meldet sich das Weiße Haus beim damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung von der CDU. Er erinnert sich an einen Anruf des Sicherheitsberaters des US-Präsidenten einen Tag vor der geplanten Befreiung: "Er hat mir gesagt, er rät uns dringend ab, diese Operation durchzuführen." Die Amerikaner ziehen ihre Unterstützung zurück. Doch warum so plötzlich, hatten sie doch zuvor alle Planungen mitgetragen?
Eine Intrige des Ministeriums gegen die GSG 9?
Der rbb-Journalist Michael Götschenberg hat dazu monatelang recherchiert und die Ereignisse in einem Buch über die GSG 9 genau rekonstruiert: Das deutsche Verteidigungsministerium hatte demnach eine eigene Risikobewertung zum geplanten Einsatz der GSG 9 erstellt, diese ans Pentagon geschickt und den Einsatz darin als hochriskant bewertet. Eigentlich war für die Risikobewertung die GSG 9 zusammen mit der US-Navy zuständig, also die Kräfte vor Ort auf dem US-Hubschrauberträger. Dort kam man einhellig zum Schluss, dass der Einsatz machbar, das Risiko zwar hoch aber dennoch kalkulierbar sei.
Die abweichende Bewertung der Lage durch das deutsche Verteidigungsministerium, ohne Abstimmung mit dem Krisenstab, ließ die Einsatzkräfte fassungslos zurück. Und sie verfehlte ihre Wirkung auf die Amerikaner nicht, die plötzlich feststellten, dass die Deutschen keine einheitliche Bewertung hatten. Die als "geheim" deklarierte Risikobewertung des Verteidigungsministeriums liegt Kontraste vor. Darin heißt es: "Die möglichen Auswirkungen einer Geiselbefreiung auf die Lage vor Ort sind derzeit unwägbar."
Der damalige Verteidigungsminister Jung gibt an, von diesem Papier nichts gewusst zu haben. "Ich habe insgesamt 360.000 Mitarbeiter gehabt. Dass das Haus vielleicht unabhängig eine Risikobewertung durchgeführt hat, das schließe ich hier nicht aus." Die Amerikaner zumindest zogen ihre Unterstützung zurück, der Einsatz musste daraufhin abgeblasen werden. Doch warum vereitelten Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums den GSG-9-Einsatz? Das Verteidigungsministerium lehnt eine Stellungnahme ab. Ein mögliches Motiv: Konkurrenzdenken, verfügt doch die Bundeswehr mit ihrem Kommando Spezialkräfte, KSK, ebenfalls über eine Elitetruppe, die für Geiselbefreiungen im Ausland infrage kommt. August Hannig hält das für denkbar und berichtet von Eifersüchteleien, die es immer gegeben habe. "Ich glaube, da haben sich möglicherweise Apparate verselbständigt. Die haben dann ihre eigenen Interessenlagen gesehen."
Verpasste Rettungschance
Für die Geiseln an Bord der "Hansa Stavanger" bedeutete das eine verpasste Chance auf Befreiung. Einige Geiseln, die die Piraten für besonders "wertvoll" hielten, wurden zwischenzeitlich an Land verschleppt, mit der Drohung, sie an religiöse Fanatiker zu verkaufen. Der damalige 2. Offizier Euskirchen erinnert sich an Videos, die ihnen gezeigt wurden: "Da haben wir gesehen, wie Geiseln der al-Shabaab-Miliz geköpft wurden - mit dem Hinweis, dass das auch mit uns passiert. Dass wir an die al-Shabaab verkauft würden, wenn jetzt nicht gezahlt werde."
Erst nach vier Monaten waren die Verhandlungen zu Ende und der Hamburger Reeder der "Hansa Stavanger" ließ 2,75 Millionen US-Dollar Lösegeld über dem Schiff abwerfen. Die Geiseln wurden freigelassen.
Mehr Hintergründe zum Fall "Hansa Stavanger" gibt es heute Abend bei "Kontraste": Um 21 Uhr 45 im Ersten.