Anerkennung von Corona-Infektionen Ermittlungen zu ungenau?
Mehr als eine halbe Million Menschen haben ihre Corona-Infektion als Arbeitsunfall oder Berufskrankheit angezeigt. Beratungsstellen kritisieren nach Informationen von NDR, WDR und SZ, dass die Überprüfungen abgelehnter Fälle oft zu ungenau seien.
Von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt hat sich eine weitere Corona-Welle aufgetürmt - vor den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Es geht um Beschäftigte, die sich bei der Arbeit mit Covid-19 angesteckt haben könnten und nun von den Genossenschaften eine medizinische Versorgung und mögliche Rentenansprüche beantragen.
Über fast 500.000 gemeldete Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit Covid-19 haben die Genossenschaften in den vergangenen zwei Jahren bereits entschieden. Knapp zwei Drittel der Anträge wurden anerkannt - vor allem bei Menschen, die im Gesundheitswesen, der Pflege oder bei körpernahen Tätigkeiten wie dem Friseurhandwerk arbeiten.
Eine Anerkennung verspricht eine bessere medizinische Versorgung und mögliche Rentenansprüche. Dafür muss "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" belegt sein, dass die Krankheit durch die Arbeit verursacht wurde. Ermitteln muss das stets die Berufsgenossenschaft, die im Anschluss auch die Kosten übernimmt.
Beratungsstellen schlagen Alarm
Doch wenn der Antrag abgelehnt wird, haben es Betroffene oft schwer, dagegen vorzugehen. Die einzigen unabhängigen Beratungsstellen für Berufskrankheiten, finanziert von den Landesregierungen in Bremen, Hamburg und Berlin, schlagen Alarm. Die drei Beratungsstellen haben sich mit einem internen Brandbrief an das Bundesarbeitsministerium gewandt. In diesem Brief, der NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" vorliegt, kritisieren sie, dass die Ermittlungen oft zu ungenau seien.
In den vergangenen beiden Jahren haben die Beratungsstellen nach eigenen Angaben die Akten von mehreren Dutzend Fällen durchgearbeitet, bei denen Anträge zunächst abgelehnt wurden. Immer wieder würden dabei wichtige Beweismittel nicht berücksichtigt - sogar dann nicht, wenn Betroffene ganz konkret darauf hinwiesen.
Dem Arbeitsministerium legten die Beratungsstellen in ihrem Brief deshalb Vorschläge vor, wie das betreffende Sozialgesetzbuch VII aus ihrer Sicht geändert werden müsste. Die Berliner Arbeitssenatorin Katja Kipping verschickte im vergangenen Sommer das Schreiben. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass zentrale Dokumente wie etwa die für jeden Betrieb verpflichtende Gefährdungsbeurteilung nicht regelmäßig als Beweismittel berücksichtigt würde - genauso wie konkrete Messungen, zum Beispiel von Schadstoffen, oder die Berichte von Betriebsärzten und Personalräten. Bislang bleibe es weitgehend den einzelnen Ermittlern überlassen, wie umfassend sie prüfen.
Arbeitsministerium lehnt Vorschläge ab
Doch im Bundesarbeitsministerium unter dem Sozialdemokraten Hubertus Heil fanden Kippings Vorschläge wenig Anklang. Schon heute seien die Berufsgenossenschaften verpflichtet, die geforderten Beweise zu erheben, antwortete ihr das Ministerium. Außerdem müsse der Versicherte keinesfalls beweisen, dass er sich bei der Arbeit angesteckt habe. Es reiche aus, wenn es wahrscheinlich sei. Dementsprechend werde die Mehrheit der Anträge anerkannt. Die von den Beratungsstellen geforderte Beweislastumkehr lehnte das Ministerium ab. Schließlich sei es für Arbeitgeber unmöglich zu beweisen, dass sich ihre Beschäftigten nicht im Betrieb angesteckt hätten. Kippings Vorschläge hätten zur Folge, dass bei einer Covid-19-Infektion alle Anträge anerkannt werden müssten.
Öffentlich will das Ministerium die Berliner Forderungen nicht kommentieren und verweist auf Anfrage auf eine "umfangreiche Weiterentwicklung" des Berufskrankheitenrechts aus dem Jahr 2020.
Nur "Einzelfälle"
Auch der Dachverband der Berufsgenossenschaften, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung DGUV, lehnt neue Vorschriften ab. Sie hätten ja ohnehin "alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen", schreibt die DGUV. Würden Ermittler dies nicht tun, wäre dies ein Gesetzesverstoß. Die DGUV schreibt, dass es sich bei den Vorwürfen der Beratungsstellen lediglich um Einzelfälle handele.
Während die Kritik an den Berufsgenossenschaften wächst, nimmt die Zahl derjenigen ab, die über die Genossenschaften wachen sollen. Zuständig für die Aufsicht der Berufsgenossenschaften sind zwei Institutionen. Zum einen die Landesgewerbeärzte: Sie werden von den Bundesländern beschäftigt und sollen alle Entscheidungen der Berufsgenossenschaften inhaltlich prüfen. Doch die Zahl der Aufseher wurde in den vergangenen Jahren um mehr als die Hälfte reduziert. Beschäftigten die Bundesländer vor rund zwei Jahrzehnten noch etwa 160 Landesgewerbeärzte, sind es heute nur noch rund 70. In einigen Bundesländern ist ein einziger Arzt dafür zuständig, die Gesundheit aller Beschäftigten des ganzen Landes zu überwachen.
Wenige Beanstandungen
Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) wiederum prüft, ob sich die Berufsgenossenschaften an die rechtlichen Vorgaben halten. Eine sogenannte Fachaufsicht, also eine tiefe inhaltliche Prüfung der Entscheidungen, führt das BAS nicht durch.
So wandten sich in den vergangenen fünf Jahren zwar 932 Menschen mit Beschwerden über die Berufsgenossenschaften an das BAS, doch nur wenige Dutzend Fälle führten zu Beanstandungen. Die Formalia waren offenbar fast überall eingehalten. Das geht aus einer Antwort auf eine kleine Anfrage hervor, die Susanne Ferschl gestellt hatte, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag.
Das BAS schreibt auf Anfrage, die Prüfung erfolge "ausschließlich anhand der vorliegenden Verwaltungsunterlagen des Versicherungsträgers". Eigene Ermittlungen könne das Amt nicht durchführen. Betroffene müssten sich ansonsten an die Sozialgerichte wenden.