Schild am Eingang der Staatsanwaltschaft Berlin
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NS-Kriegsgefangenenlager Anklage gegen Wehrmachtssoldaten erhoben

Stand: 12.08.2022 15:26 Uhr

Erstmals ist nach NDR-Informationen Anklage gegen einen mutmaßlichen Wachmann eines Kriegsgefangenlagers der Wehrmacht erhoben worden. Dem Mann wird Beihilfe zum grausamen Mord in 809 Fällen zur Last gelegt.

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat Anklage gegen einen mutmaßlichen ehemaligen Wachmann eines Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht erhoben. Wie eine Sprecherin der Berliner Strafgerichte dem NDR auf Anfrage bestätigte, wird dem ehemaligen Soldaten Beihilfe zum Mord in dem Kriegsgefangenenlager Wladimir-Wolynsk auf dem Gebiet der heutigen Westukraine vorgeworfen. Die Anklage wurde noch nicht zugelassen.

Dem 98-jährigen Mann, der heute in Berlin lebt, wird Beihilfe zum grausamen Mord in 809 Fällen zur Last gelegt. Er soll an der Bewachung von Kriegsgefangenen in dem sogenannten Stammlager ("Stalag") beteiligt gewesen sein. Der Verdächtige gehörte laut Anklage einem "Landesschützen-Bataillon" der Wehrmacht an und soll von November 1942 bis März 1943 seinen Dienst im Lager ausgeübt haben.

In dem Kriegsgefangenenlager Wladimir-Wolynsk, das unter dem Namen "Stalag 365" firmierte, wurden sowjetische Soldaten unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht. Viele Gefangene verhungerten beziehungsweise starben an Krankheiten. Die Anklage der Berliner Staatsanwaltschaft geht daher bei den Tötungen, die der Beschuldigte mit seinem Handeln unterstützt haben soll, von dem Mordmerkmal der Grausamkeit aus.

Beschuldigte zum Tatzeitpunkt 21 Jahre alt

Die Anklage wurde vor einer Jugendkammer des Berliner Landgerichts erhoben, weil der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt Heranwachsender, also unter 21 Jahren alt, war. Über die Zulassung der Anklage, die vor drei Monaten erhoben wurde, habe die Strafkammer noch nicht entschieden, sagte eine Gerichtssprecherin auf Anfrage. Ob es zu einem Prozess kommt, ist demnach offen. Nach NDR-Informationen laufen derzeit noch weitere Ermittlungen, um die Tätigkeit des Verdächtigen aufzuklären. Der Verteidiger des Angeschuldigten war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Die Aufklärung von Morden an sowjetischen Soldaten in deutschen Kriegsgefangenenlagern ist - knapp 80 Jahre nach den Taten - ein neuer Schritt in der juristischen Betrachtung von NS-Verbrechen. In den zurückliegenden Jahren hatte es mehrere Anklagen gegen Männer gegeben, die den SS-Wachmannschaften in Konzentrationslagern angehörten.

Seit dem Urteil gegen den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk, der im Jahr 2011 wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibor zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, werden auch Wachleute niedriger Ränge strafrechtlich verfolgt. Nach dieser geänderten Rechtspraxis wird die einfache Wachtätigkeit in einem KZ, in dem systematisch Menschen ermordet wurden, als Beihilfe zum Mord gewertet.

Ermittlungen gegen mutmaßliche Mordhelfer

Deshalb ermitteln deutsche Strafverfolger in jüngster Zeit gegen mutmaßliche Mordhelfer aus der Nazizeit. Das Landgericht Neuruppin in Brandenburg verurteilte im Juni einen inzwischen 101 Jahre alten ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Vor dem Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein läuft derzeit ein Prozess gegen eine 97-Jährige, die als Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig tätig war. Ihr wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen.

Eine Anklage gegen einen einfachen Wachmann eines Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht gab es bisher jedoch noch nicht. Der Leiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hatte im vergangenen Jahr dem NDR bestätigt, dass entsprechende Ermittlungen zu mehreren "Stalag"-Lagern liefen.